Schöpferische Gewaltlosigkeit
Was meint Jesus, wenn er sagt, man soll auch die andere Wange hinhalten? Soll man sich alles gefallen lassen? Nein, das nicht. Vielmehr steckt dahinter die Aufforderung, Unrecht zu entlarven, Macht mit Humor zu begegnen und keine Angst zu haben
Es gibt zwei völlig unterschiedliche Weisen, die Welt zu betrachten, sagt der norwegische Friedensforscher Johan Galtung. Zum einen kann man die Dinge so sehen: Es gibt irgendwo auf der Welt das Böse, Feinde oder den Feind, der Gewalt ausüben will. Warum? Weil er böse ist. Was kann man dagegen tun? Das einzige Mittel gegen das Böse ist Stärke. Das einzige Mittel gegen die Gewalt ist noch mehr Stärke. Und wenn man das Böse nicht verhindern kann, muss man es vernichten.
Aus einem ganz anderen Blickwinkel betrachtet, sagt Johan Galtung, sehen die Dinge so aus: Es gibt Konflikte, die kompliziert sind. Wären sie einfach, hätte man sie bereits gelöst. Konflikte münden – aus Ungeduld oder Frustration – häufig in Gewalt. Erst in Gedanken, dann in Worten, schließlich in der Tat. Um Konflikte zu überwinden, muss man gewohnte Denkbahnen verlassen und schöpferische Strategien entwickeln, mit mehr als nur einer Lösungsmöglichkeit. Wenn man das ernsthaft betreibt, dann erreicht man möglicherweise Frieden.
Kreativer Umgang mit Gewalt ist möglich
Jesus ist darin ein Meister. Er bietet Alternativen zum Freund-Feind-Denken und zur Gewalt. Er beherrscht diesen zweiten Blickwinkel, der Konflikte akzeptiert und kreativ angeht. In der Bergpredigt sagt er: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ,Auge um Auge, Zahn um Zahn.‘ Ich aber sage euch, dass ihr das Böse nicht mit Bösem bekämpfen sollt, sondern: Wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und wenn jemand mit dir einen Rechtsstreit hat und dir deinen Rock nehmen will, dem lass auch deinen Mantel. Und wenn dich jemand zwingt, eine Meile mitzugehen, so geh zwei…“
Man hat diese Worte Jesu oft so gedeutet, als empfehle er, sich alles gefallen zu lassen. Der amerikanische Neutestamentler Walter Wink zeigt, dass die drei Beispiele, die Jesus anführt, keineswegs die Aufforderung enthalten, Unrecht passiv hinzunehmen. Um seine Worte zu verstehen, muss man allerdings berücksichtigen, in welcher politischen und gesellschaftlichen Situation Jesus gelebt und wer ihm zugehört hat.
„Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die linke hin!“. Wie kann man jemanden auf die rechte Wange schlagen? Das geht nur mit der rechten Rückhand, nicht mit der geöffneten Hand oder mit der Faust. Jemanden mit der Rückhand zu schlagen, war seinerzeit Zeichen höchster Verachtung und extrem beleidigend. So schlugen Väter ihre ungezogenen Kinder, Herren ihre Sklaven, Männer ihre Frauen, römische Soldaten der Besatzungsmacht die Juden. Einen Gleichrangigen zu schlagen, war verboten und wurde drakonisch bestraft. Schlug man ihn obendrein nicht mit der Faust, sondern mit der Rückhand, verhundertfachte sich die Strafsumme.
Die Zuhörer Jesu gehörten zum großen Teil zur Gruppe derer, die solch erniedrigende Schläge kannten. Ausgerechnet ihnen empfiehlt Jesus, die andere Backe hinzuhalten. Warum? Weil genau dies dem Unterdrücker die Möglichkeit nimmt, sie zu demütigen. Wer selbstbewusst die andere Wange hinhält, gewinnt die Würde zurück. Das bringt den Angreifer in Schwierigkeiten. Schlägt er mit der Faust auf die linke Backe des Gegenübers, dann erkennt er ihn als Ebenbürtigen an. Sein Ziel, einen Mitmenschen zu demütigen, hat er verfehlt. Diese Irritation kann unter Umständen sogar dazu führen, dass er die Faust sinken lässt und ablässt von der Gewalt. Die Eskalation wird gestoppt. Jesus lädt dazu ein, die Initiative zu ergreifen und sich zu weigern, die unterlegene Position anzunehmen.
Die zweite Szene spielt sich vor Gericht ab. Jemand wird verklagt, seinen Mantel herzugeben. So steht es jedenfalls im Lukasevangelium: „Wer dir den Mantel wegnimmt, dem verweigere auch das Hemd nicht!“ Bei Matthäus heißt es: „Wer dir das Hemd wegnimmt, dem gib auch den Mantel!“. Es war gang und gäbe, Armen den Mantel als Pfand wegzunehmen. Allerdings musste man ihn am Abend zurückgeben, denn der Arme hatte sonst nichts, um sich nachts vor der Kälte zu schützen.
Andererseits hatten die Ärmsten der Armen nichts als ihr Obergewand, um es einem Prozessgegner als Pfand zu hinterlassen. Den Zuhörern Jesu dürfte diese Situation vertraut gewesen sein, zumal Verschuldung zur Zeit Jesu an der Tagesordnung war. Wieso rät Jesus den Armen, auch noch die Unterwäsche herzugeben? Das hieße, splitterfasernackt aus dem Gericht zu laufen.
Nacktheit war in Israel absolut tabu. Aber die Schande traf nicht den Entblößten, sondern die Person, die die Entblößung verursacht oder angesehen hat. Der Gläubiger steht als derjenige da, der er ist: kein seriöser Kreditgeber, sondern ein Hai, ein Halsabschneider, der andere in bitterste Not stürzt. Er ist demaskiert und der Lächerlichkeit preisgegeben. Nichts fürchten Tyrannen so sehr wie Lächerlichkeit. Die Selbstentblößung der Schuldner vor Gericht entlarvt die Ausbeuter.
Jesu Rat: „Lasst euch die Würde nicht nehmen“
„Wenn dich jemand zwingt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm zwei…“ Das dritte Beispiel Jesu hängt ebenfalls mit der römischen Besatzungsmacht und ihren entwürdigenden Praktiken zusammen. Die waren ziemlich clever. So gab es das Gesetz, dass ein Soldat jeden beliebigen Zivilisten zwingen durfte, seinen schweren Tornister genau eine Meile für ihn zu schleppen. Eine Meile war erlaubt, alles darüber hinaus wurde gesetzlich geahndet. So konnte man die Wut des Volkes in Grenzen halten und die Menschen dennoch zu Hand- und Spanndiensten zwingen. Jesus hielt jede bewaffnete Aktion gegen die Römer für zwecklos. Aber wieso die zweite Meile?
Auch hier geht es darum, dass die Unterdrückten die Initiative behalten und ihre Würde wahren können. Man stelle sich vor, was geschieht, wenn sie das Gepäck eine Meile geschleppt haben. Jetzt muss der römische Soldat fordern: „Gib mir den Tornister wieder!“ Was aber, wenn der andere sagt: „Ach nein, ich trag ihn gern noch eine Meile!“ Der Soldat gerät in eine echte Zwickmühle. Lässt er es zu, dann macht er sich strafbar. Also muss er ins Betteln verfallen – oder dem Bürger den Tornister gewaltsam entreißen.
Bringen wir die Beispiele Jesu auf einen Nenner: Begegne brutaler Macht mit Witz und Humor. Entlarve das Unrecht des Systems. Beschäme den Unterdrücker, bis er umkehrt. Und: Lass die Angst vor der bestehenden Ordnung in dir sterben. Das ist das Schwierigste. Was bedeutet das, wenn eine ferne Konzernspitze Arbeitsplätze vernichtet? Wenn die Kleinen die Profitgier der Großen ausbaden müssen? Wenn man sich ausgeliefert fühlt? Lasst euch die Würde nicht nehmen, rät Jesus.
Jesus zeigt in der Bergpredigt ganz praktisch, wie Entfeindung und Versöhnung möglich sind, wo Beziehungskonflikte allen Parteien das Leben schwer machen: „Krieg“ am Arbeitsplatz, in der Nachbarschaft oder in der Familie. Jesu Empfehlung: „Alles, was ihr euch von anderen wünscht, das tut auch ihnen!“
Andreas Ebert ist evangelischer Theologe, Buchautor und Pfarrer in München.