Schönheit und Gnade

Raffaels anmutige Madonna Terranuova: Eine Bildbetrachtung in der Stiftung St. Matthäus über die Macht der Geste

Von Hannes Langbein

Es ist eine außergewöhnlich anmutige Szene: die junge Maria, das Jesuskind haltend, mit liebevollem Blick dem Kind zugewandt. Das Jesuskind in inniger Zwiesprache mit dem kleinen Johannes im härenen Gewand – durch ein Spruchband mit den Worten „Agnus Dei“, „Lamm Gottes“, verbunden. Gegenüber ein Knabe mit Heiligenschein, der sich aufmerksam dem Kind und der Gottesmutter zuwendet. Man spürt sofort die Harmonie dieses Bildes: Die zärtlichen Blicke. Die einander zugewandten Gesten. Alles ist ausgewogen: Vordergrund und Hintergrund teilen das Bild in genau zwei Hälften: Nähe und Ferne, Innen und Außen im Gleichgewicht. Die drei Figuren beschreiben ein Dreieck, in dem die Szene zu ruhen scheint. 

Ein Meister der Schönheit

Nicht umsonst gilt Raffael – geboren 1483 in Urbino, gestorben 1520 in Rom, künstlerisch beeinflusst von Leonardo da Vinci und Michelangelo – als ein Meister der Schönheit: Die Idee des Künstlers vervollkommnet die unvollkommenen Formen der Natur in der Einheit von Schönheit und Wahrheit. Seine ideal anmutenden Gestalten, die von Leonardo inspirierten weichen Übergänge der Farben und Formen bei beinahe mathematischer Ausgewogenheit der Bildbeziehungen. Man könnte ihn auch einen „Komponisten“ nennen. Denn Raffael komponiert seine Bilder, setzt zugleich spannungsvolle und ausgewogene Bildbeziehungen. Bis heute gelten seine Bilder als Inbegriff der Schönheit. 

Wie sehr Raffael an der richtigen Proportion und den richtigen Bildbeziehungen gearbeitet hat, lässt sich an Marias linker Hand erkennen. Auf Röntgenaufnahmen zeigt sich, dass ihre Hand ursprünglich anders positioniert war: auf dem Oberschenkel des Jesuskindes liegend. Im späteren Malprozess entschied sich Raffael dafür, die Hand leicht in Richtung des heiligen Knaben zu strecken – um so die Verbindung zwischen den Figuren zu stärken und mehr Bildspannung zu erzeugen. 

Geste und Haltung

Grazil würden wir die Haltung der Hand beschreiben – und ahnen dabei etwas von der Verbindung von Gnade (Lateinisch „gratia“) und Schönheit: Die Gnade der Gottes­mutter zeigt sich in ihrer Schönheit und diese in der Bewegung ihrer Hand. Der evangelische Theologe Klaas Huizing hat in seinem Buch „Handfestes Christentum. Eine kleine Kunstgeschichte christlicher Gesten“ (2007) den Zusammenhang von Körpergesten und inneren Haltungen beschrieben: Bilder können über die Darstellung von Körpergesten die inneren Haltungen der Figuren zum Ausdruck bringen. Es ist der Anspruch dieser Bild­gesten, die mit ihnen verbundenen Haltungen auf ihre Betrachter*innen übertragen zu können.

Hannes Langbein ist Direktor der Stiftung St. Matthäus und Kunstbeauftragter der EKBO.

Das Bild „Maria Terranuova“ von Raffael wird am Donnerstag, 29. September, um 18 Uhr im Rahmen der „Christlichen Bildbetrachtungen“ in der Stiftung St. Matthäus im Berliner Kulturforum besprochen. 

Adresse:  St.-Matthäus-Kirche, Matthäikirchplatz, Berlin-Tiergarten. Der Eintritt ist frei.

Referent*innen sind der Kunsthistoriker Professor Rudolf Preimesberger und die Berliner Pfarrerin Christine Schlund. Corona­bedingt sind Führungen für größere Gruppen in der Gemäldegalerie nach wie vor nicht möglich.