Mit geschlossenen Augen schlägt Luise Schmidt (Name geändert) zu. Erst treffen ihre roten Boxhandschuhe den an Seilen befestigten Ball nur zaghaft – dann kräftiger. Es knallt lauter, der Ball schwingt stärker. Schmidt weicht einen Schritt zurück. Gegenüber der 45-Jährigen steht Boxtherapeutin Petra Kowalkowski und beobachtet ihre Klientin ganz genau. „Wie hat sich das angefühlt?“, fragt sie Schmidt, als diese die Augen wieder öffnet.
Die Personalerin Schmidt lässt langsam die Boxhandschuhe sinken. „Ich bin zurückgewichen, wie im Alltag auch“, antwortet sie unzufrieden. „Das muss nicht schlecht sein, einen Schritt zurück zu machen und sich Situationen erst einmal mit Abstand anzuschauen“, sagt Kowalkowski. Deutlich wird: In dem lichtdurchfluteten Raum in Lehrte bei Hannover passiert viel mehr als reines Boxtraining.
Therapeutisches Boxen hilft Menschen mit Depressionen
Kowalkowski begleitet mit dem therapeutischen Boxen unter anderem Jugendliche mit ADHS, Menschen mit Depressionen oder Paare in Krisensituationen. „Die Kombination aus gezielter Bewegung, Konzentration und Selbstwahrnehmung führt oft zu erstaunlichen Ergebnissen, insbesondere auch bei Menschen ohne spezielle psychische Diagnose“, sagt die 54-Jährige, die jahrelang als Organisationsentwicklerin und Coach tätig war und dabei unter anderem Führungskräfte oder Paare mit Kinderwunsch begleitet hat. Zusätzlich absolvierte sie eine von der Ärztekammer anerkannte Zertifizierung zur Boxtherapeutin.

Für Luise Schmidt kamen nach dem Boxen vor allem die Erinnerungen an ihre langjährige und schmerzhafte Zeit des Kinderwunsches zurück. „Ich habe alles mitgemacht, was es an Fehlgeburten und missglückten Befruchtungsversuchen gibt und habe das damals nicht richtig aufgearbeitet“, sagt sie in einer Pause, und der Blick hinter der Brille wird ernst.
Als vor acht Jahren ihr Sohn auf die Welt kam und später noch der Wunsch nach einem zweiten Kind entstand, reagierten viele Freunde und auch die Familie mit Unverständnis, wie sie berichtet: Sie habe doch ein Kind und solle sich glücklich schätzen. Erst jetzt lerne sie, die Gefühle der Trauer zuzulassen. „Und im eng getakteten Familienalltag auch mal loszulassen, Kontrolle abzugeben und wie beim Boxen, das Atmen nicht zu vergessen.“
Wirkung des therapeutischen Boxens nicht erforscht
Die Wirkung des therapeutischen Boxens ist bislang kaum erforscht, die Therapie wird auch nicht von den Krankenkassen übernommen. Vereinzelte wissenschaftliche Studien ließen darauf schließen, dass sich Symptome unter anderem von Angst, Depressionen und posttraumatischen Belastungsstörungen verbesserten, hielt ein Forscher-Team aus Kanada in einer internationalen Studie vor einigen Jahren fest. Die Therapie könne auch dazu beitragen, Wut und Stress abzubauen. Die gezielten Übungen verbesserten das Selbstwertgefühl, die Konzentration, Kraft und Koordination.
Auch für Sara Delle Karth, Bewegungstherapeutin im Zentrum für Psychiatrie Reichenau am Bodensee, zeigt das therapeutische Boxen oft überraschende Erfolge. „Bei Menschen mit Depressionserkrankungen sieht man sehr schnell, wie sich die oft gebückte Haltung hin zu einem stabilen Stand direkt verbessert und der Blick sich nach vorn richtet.“ Generell könne die Boxtherapie immer vielfältiger bei immer mehr Diagnosen eingesetzt werden.
Boxen stimuliert Gehirn
Laut Delle Karth, die sich seit mehr als zehn Jahren mit dem Boxen als Therapie beschäftigt, führt insbesondere der gezielte und unregelmäßige Wechsel von linker und rechter Boxhand dazu, dass die Gehirnhälften beidseitig stimuliert werden. Viel schneller kämen die Patienten zu ihren Themen. „Wenn sie beim Boxen zu nah oder zu weit entfernt stehen, passiert das vielleicht auch beim Streit im Familienalltag.“ Viele lernten auch erst in solchen Stunden, wie sie ihre Kraft dosieren könnten.
Petra Kowalkowski fordert Luise Schmidt zum Abschluss des Trainings noch einmal auf, an einer an der Wand befestigten Schlagplatte ihre maximale Kraft zu testen. Das therapeutische Boxen erfordere von den Teilnehmern keine bestimmte Grundfitness, denn es gehe vordergründig nicht um einen sportlichen Ausgleich, betont die Boxtherapeutin. Auch Fehler seien erlaubt, manchmal für den Prozess sogar erwünscht. „Manchen Menschen fällt es unglaublich schwer, gesellschaftliche Erwartungen abzulegen, und sie wollen alles richtig machen.“
Auch Schmidt hält hoch konzentriert den Atem an, während sie im rasanten Wechsel und mit voller Wucht auf die Platte schlägt. Die Ecken symbolisieren jeweils Zahlen, die Kowalkowski in einer unregelmäßigen Reihe vorgibt. In einer Pause fragt die Boxtherapeutin, welcher Satz ihr bei dieser Übung in den Sinn gekommen sei. Schmidt zögert nicht lange: „Ich möchte auch mal meckern.“ Während sie diesen Satz mantraartig und immer lauter wiederholt, schlägt sie noch einmal immer fester auf die Wandplatte. Zum Schluss lächelt die 45-Jährige sichtlich befreit und stolz, während sie ihre Handschuhe wieder auszieht: „Ich bin heute selbst überrascht, wie viel Kraft ich doch noch hatte.“
