Wenn im Mittelalter Reliquien auftauchten, konnte selbst das unbedeutendste Nest eine riesige Anziehungskraft entwickeln. Doch die Sache kann am Ende doch schiefgehen…
14 Kilometer nördlich von Semur versteckt sich in einem bis heute winzigen Örtchen (150 Einwohner) ein architektonisches Kuriosum: Die einfache Pfarrkirche des Dorfes Fontaine am Flüsschen Armançon gelangte 1240 an Reliquien des aus Oberitalien in seine Heimat zurückgebrachten heiligen Theobald von Provins (um 1017-1066) – und wurde so quasi aus dem Nichts ein namhafter Wallfahrtsort, der bald als Saint-Thibault-en-Auxois bekannt war.
Eine neue Kirche musste her; und die inzwischen hier angesiedelten Benediktiner dachten groß. Ab etwa 1255/60 entstand, auch mit reichen Stiftungen von Herzog Robert II. und seiner Ehefrau, der Königstochter Agnes von Frankreich, ein mächtiger gotischer Chor; ohne äußere Stützpfeiler ein kühnes Meisterwerk der Statik. Doch 1336 versiegten die Zuschüsse; schlimmer noch, der Hundertjährige Krieg fügte dem Dorf wie der so kunstvoll ausgeführten Wallfahrtskirche verheerende Schäden zu.
Die Jahrhunderte setzen dem Torso weiter zu, bis 1686 die ausgeführten Teile des Kirchenschiffs einstürzten. Um 1830 war auch das wertvolle gotische Portal massiv bedroht, weil die Turmreste eine zu starke Auflast darstellten. So entschied sich Frankreichs Chefrestaurator Eugène Viollet-le-Duc zum Abriss der Türme. Die viel bescheidenere heutige neugotische Variante entstand 1895.
Nach einer intensiven Außen- (2010-2012) und Innenrestaurierung (2020-2023) präsentiert sich die Kirche von Saint-Thibault-en-Auxois heute als ein prächtiges architektonisches Durcheinander (frz. “Bric-à-Brac”): der prächtige hohe Chor aus dem 14. Jahrhundert, das Portal aus dem 13. – und dazwischen ein halb so niedriges Kirchenschiff mit dem gotischen Reliquienschrein.