Rückenwind für ein geschwisterliches Miteinander

Aus den Aufrufen der beiden großen Kirchen in NRW folgt ein Perspektivwechsel in Pastoralplanung und Gemeinekonzeption

„Ja, was ist denn das für eine Kirche?“, mögen sich Besucher fragen, die das Barbara-Zentrum in Herten betreten. In den Bänken liegen abwechselnd das Gotteslob und Evangelisches Gesangbuch, am katholischen Altar hängt ein evangelisches Parament, auf dem Ambo liegt die Lutherbibel aus. Im Altarraum stehen von „Konfis“ selbst verzierte Kerzen, an der Seitenwand brennen Lichter vor einer Marien-Ikone.  
Dieses konfessionelle Neben- und Miteinander ist gewollt – seit nunmehr fast zehn Jahren. Am ersten Advent 2008 zog die evangelische Gemeinde in die katholische St.-Barbara-Kirche ein. Sie war gekommen, um zu bleiben. Die Lutherkirche war geschlossen, die St.-Barbara-Kirche wegen Baufälligkeit abgerissen worden.
Die evangelische Pfarrerin und der katholische Pfarrer standen vor derselben Frage: „Wo feiern wir in Zukunft Gottesdienste und versammeln die Gemeinde?“ Da bot sich die Caritas an, sie baute gerade ein Altenzentrum. Die Idee, einen sakra­len Raum für den ganzen Stadtteil vorzusehen, war geboren.
Auch im Gemeinsamen Kirchenzentrum Meschede sind beide Konfessionen ständig präsent – und das schon seit 1976. „Ökumenisches Kirchenzentrum“ aber darf es sich bis heute nicht nennen. Eine Grundstruktur an konfessionell erkennbaren Gottesdiensten muss vorgehalten werden. Ökumenische Gottesdienste kommen hinzu. Von Anfang an ging es in Meschede um die Frage: „Was machen wir gemeinsam?“
Vor allem die ökumenischen Gottesdienste bringen beide Seiten einander näher. Wenn im „Brunnengottesdienst“ in Herten an die in der Taufe liegenden gemeinsamen Wurzeln aller Christen erinnert wird, „spüren wir, dass wir erst zusammen ganz Kirche Jesu Christi sind“, sagt Pfarrerin Ulrike Baldermann.
In Holzwickede und Opherdicke ist Pfingsten immer Hoch-Zeit der Ökumene. Dann gibt es im Schlosshof – unter freiem Himmel – ein Tauffest, das zum ökumenischen Aushängeschild der ganzen Region avanciert ist. „Nicht das gemeinsame, sondern das getrennte Handeln der Konfessionen muss begründet werden“, sagen die Opherdicker Gemeindemitglieder Reinhald Imig und Bernd Weberink selbstbewusst. „Das steht so auch in der Charta Oecumenica.“
Der Grundgedanke der Charta Oecumenica (www.oekumene ack.de/index.php?id=179), die alle Kirchen Europas gemeinsam erarbeitet haben, lautet: Ökumene ist nicht etwas Zusätzliches, sondern Grunddimension von Kirche. 2017, das Jubiläumsjahr der Reformation, hat dies besonders wieder in den Blick gerückt: die Kirchen stehen gemeinsam vor der Aufgabe, dieser Welt das Evangelium von Jesus Christus zu bezeugen. Und sie stehen vor Frage: „Wie können wir einer zerrissenen Welt Hoffnung bringen, wenn wir selbst gespalten sind?“
„500 Jahre nach der Trennung unserer Kirchen durch die Reformation stehen wir an der Schwelle zu einer neuen Gemeinsamkeit im Glauben“, heißt es zu Beginn des Ökumenischen Aufrufes, der am 22. Januar 2017 im Anschluss an den Versöhnungsgottesdienst im Essener Dom zwischen dem Bistum Essen, der Evangelischen Kirche im Rheinland und der Evangelischen Kirche von Westfalen unterzeichnet wurde („Ökumenisch Kirche sein. Ein Aufruf aus Anlass des Reformationsgedenkens 2017“). Am Pfingstmontag wurde mit dem Bistum Münster ein solcher Aufruf („Gemeinsam Zukunft gestalten“) unterzeichnet. Im September folgte die Erklärung „Ökumenisch Zukunft gestalten“ mit dem Erzbistum Paderborn.
Alle drei Aufrufe knüpfen an das „selbstverständliche geschwisterliche Miteinander“ an, das sich zwischen evangelischer und katholischer Kirche „auf allen Ebenen“ in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Sie ermutigen dazu, die geistlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen in dieser Zeit gemeinsam anzugehen und in die gewachsene ökumenische Geschwisterschaft zwischen Katholiken und Protestanten auch die kleineren Kirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlichen Kirchen (ACK) mit einzubeziehen.
Die Gemeinden, die ökumenisch bereits gut unterwegs sind, bekommen damit spürbar Rückenwind. Und die, die bisher eher zurückhaltend waren, bekommen deutlich ins Stammbuch geschrieben, dass es um einen „ökumenischen Perspektivwechsel in Pastoralplanung und Gemeindekonzeption“ geht. Dieser Perspektivwechsel ist nicht nur theologisch geboten, sondern verheißt auch Synergieeffekte und manch pragmatische Lösung von strukturellen Problemen vor Ort, die die beiden großen Kirchen durch schrumpfende Mitgliederzahlen und Finanzen haben.
Ein besonders verheißungsvoller neuer Aspekt aber ist, dass sich die Kirchenleitungen zu „ökumenischen Vereinbarungen für die zwischenkirchliche Zusammenarbeit“ verpflichten. Also nicht mehr nur „Ökumene von unten“, sondern auch von oben gewollte und strukturiert anzugehende Zusammenarbeit. So wollen sich die Kirchen in Zukunft gegenseitig stärker zur Mitwirkung an den Reformprozessen einladen. Der Wille am Zusammenwachsen zu arbeiten, ist also vorhanden.