Raus aus der Stadt: Warum es viele Menschen aufs Land zieht

Deutlich mehr Menschen als noch vor zehn Jahren ziehen von der Stadt aufs Land. Das bringt für die Dörfer viel Gutes mit sich – aber birgt auch Risiken für die Dorfgemeinschaft.

Straßenfest im hessischen Dorf Wanfried
Straßenfest im hessischen Dorf WanfriedImago / Müller-Stauffenberg

Was macht der Hausbau? Geht es dem Vater besser? Die Anonymität der Großstadt, wo jeder sein eigenes Ding macht und die Nachbarn nicht mitbekommen, wenn die Gesundheit schwächelt, gibt es auf dem Land nicht. Wenn jeder jeden kennt, wissen auch alle, was im Leben des anderen so vor sich geht.

Ein großer Unterschied zum Nebeneinanderherleben in großen Städten – und offenbar etwas, was immer mehr Menschen zu schätzen wissen oder mindestens in Kauf nehmen.

Das Berlin-Institut veröffentlichte am Dienstag die Studie „Neu im Dorf: Wie der Zuzug das Leben auf dem Land verändert“, nach der immer mehr Menschen ihren Wohnsitz von der Stadt aufs Land verlegen. Wanderungsgewinne verzeichnen aktuell demnach rund zwei von drei Landgemeinden – vor zehn Jahren „galt dies nur für rund jede vierte Landgemeinde“, erklärte Studienautor und Sozialpsychologe Frederick Sixtus. Eine ähnliche Entwicklung erlebten auch Kleinstädte.

Wunschort für Familien und Berufseinsteiger

„Diese Veränderungen im Wanderungsverhalten deuten sich schon länger an, seit 2017 hat die neue Landlust dann an Fahrt aufgenommen. Corona hat diesen Trend noch einmal verstärkt“, so Sixtus.

Er und seine Kolleginnen besuchten für die Untersuchung eine Woche lang sechs Gemeinden in unterschiedlichen ländlichen Gegenden Deutschlands, die zur Zeit besonderes Zuwachs zu verzeichnen haben: Allmendingen in Baden-Württemberg, das am Nord-Ostseekanal gelegene Borgstedt in Schleswig-Holstein, Großharthau in Sachsen, Mehlmeisel in Bayern, Sanitz bei Rostock in Mecklenburg-Vorpommern und Wanfried im hessischen Teil des Werratals.

Dabei zeigte sich, dass Menschen vor allem dann von der Stadt aufs Land ziehen, wenn sie eine Familie gründen und mehr Platz benötigen. Das Eigenheim ist hier günstiger, schnelle Internetverbindungen machen Homeoffice möglich, und man erhofft sich eine bessere Kinderbetreuung. Entsprechend sind es vor allem Menschen zwischen 30 und 49 Jahren mit ihren minderjährigen Kindern sowie Berufseinsteiger zwischen 25 und 29 Jahren, die ländliche Regionen für sich entdecken.

An das Dorfleben gewöhnen

„Das wachsende Interesse am Landleben ist für die kleinen Gemeinden grundsätzlich eine gute Nachricht“, sagte Institutsdirektorin Catherina Hinz. „Es bietet die Chance, viele demografische Herausforderungen ländlicher Regionen abzumildern.“ Junge Familien mit Kindern sorgten dafür, dass Schule und Kita erhalten blieben; zudem seien sie als Fachkräfte bei ländlichen Mittelständlern sehr begehrt.

Der Zuzug stelle für kleine Gemeinden aber auch eine Herausforderung dar. „Neuzugezogene und Alteingesessene müssen das Zusammenleben aktiv gestalten. Eine funktionierende Dorfgemeinschaft ist kein Selbstläufer“, so Hinz. Wer selbst auf dem Land aufgewachsen sei und nur vorübergehend in der Stadt gelebt habe, wisse in der Regel, was ihn oder sie erwartet. Manche Zugezogene dagegen müssten das Zusammenleben auf dem Dorf erst lernen.

Wie etwa das Interesse am Leben des anderen: „Am Anfang war es schon nicht leicht: Jeder guckt so nach jedem. Das hat man ja in der Großstadt nicht. Da ist man eher so anonym“, zitiert die Studie eine Zugezogene.

Beim Sport austauschen

Mit dem von vielen Stadtflüchtlingen gefürchteten Dorftratsch habe das aber nicht viel zu tun, betonen die Studienautoren: „Was als Indiskretion wahrgenommen werden könnte, ist hier oft ein ehrliches Interesse an den Mitgliedern der Dorfgemeinschaft und Teil der ‚Informationsbörse‘. Denn was die Menschen sich beim Bäcker, auf dem Sportplatz oder beim Blumengießen auf dem Friedhof so erzählen, liefere die Basis, was so im Dorf passiert“.

Sport- und andere Vereine seien die zentralen Anlaufstellen für Zugezogene, um im Ort Fuß zu fassen. „Für die Belebung der Ortskerne sind aber auch neue Ideen nötig“, heißt es weiter. Vielerorts auf dem Land verschwänden im Ortskern etwa immer mehr Treffpunkte wie Kneipen, Gaststätten oder Bäckereien.

Dorf im Dorf verhindern

Da Neuzugezogene häufig nicht im Ortskern, sondern in den angrenzenden Neubaugebieten wohnen, müsse man aufpassen, dass „kein Dorf im Dorf“ entstehe, warnen die Autoren. So kritisiert ein Alteingesessener aus Borgstedt: „Je größer das Dorf wird, umso mehr entfremdet man sich. Da ist dann mehr auf dem Straßenfest im Neubaugebiet los, als wenn das Dorf dann mal was veranstaltet“.

Was dagegen die Dorfneulinge laut Studie manchmal befremdet, ist das gegenseitige Grüßen – auch wenn man sich nicht kennt. Im ländlichen Raum gilt das flächendeckend als eine Form des freundlichen Anerkennens, wenn man sich zufällig auf der Straße begegnet.

So berichtet Sonja, die aus beruflichen Gründen nach Sanitz in Mecklenburg-Vorpommern zog: „Also, hier gehe ich mit meinem Kind spazieren, und es grüßt mich jemand, den ich nie gesehen habe. Das ist ein schönes Gefühl, aber musste man auch erst lernen.“