Raketenbeschuss aus dem Iran schickt Israel in die Schutzräume

Der Konflikt im Nahen Osten hat eine weitere Eskalationsstufe erreicht. Am Dienstagabend feuerte der Iran zahlreiche Raketen auf Israel ab. Für die Menschen im Land begannen bange Stunden.

Am frühen Dienstagabend hatten US-Vertreter gewarnt: In den nächsten zwölf Stunden müsse mit Raketenangriffen aus dem Iran auf Israel gerechnet werden. Eine Warnung, die sich knapp zweieinhalb Stunden später bewahrheiten sollte. Gegen 19.30 Uhr israelischer Zeit begannen die Mobiltelefone zu klingeln. “Suchen Sie den Schutzraum auf und bleiben Sie dort bis neue Nachrichten erfolgen”, so die Anweisung des Heimatfrontkommandos. Was folgte, waren Luftalarmsirenen und laute Explosionen. Wer konnte, brachte sich in Schutzräumen in Sicherheit.

Drei Stühle, ein verstaubter Tisch und ein wenig Gerümpel: Das erwartet die Menschen im Schutzraum eines Wohnhauses im gediegenen Jerusalemer Stadtviertel Talbieh. Die offiziellen Residenzen des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und von Präsident Isaac Herzog liegen in fußläufiger Entfernung. Anderthalb Minuten, das ist die Zeit, die in Jerusalem üblicherweise zwischen Alarm und einem möglichen Einschlag liegen. Die Nachricht des Heimatfrontkommandos aufs Telefon war diesmal schneller als die Sirenen des Raketenalarms.

Im Schutzraum herrscht angespannte Stimmung. Da ist das russischsprachige Paar mit der Tochter im Teenie-Alter, die schon im April beim ersten iranischen Angriff mitten in der Nacht im Schlafanzug im Keller ausharrte. In den Händen halten sie einen Teil der Einkäufe für das bevorstehende jüdische Neujahrsfest. Der Rest ist noch im Auto. Eine andere Mutter hat ihre fünf kleinen Kinder in Sicherheit gebracht. Ihr Mann wurde auf dem Weg von dem Angriff überrascht und hat andernorts Zuflucht gefunden.

Mit dem Raketenalarm steigen der Geräuschpegel und die Zahl der Versammelten im Keller. Der Nachbar mit der kleinen Hündin gesellt sich zur Freude des Teenies und dem Schrecken der kleineren Kinder zu der Runde. Laute Explosionen sind zu hören, ob von Einschlägen oder dem Abschuss durch das Raketenabwehrsystem, ist schwer zu beurteilen. Ein junger Mann, der als Passant vor dem Haus von der Sirenenwarnung überrascht wurde, leiht sich eines der wenigen Handys, die im fensterlosen Untergeschoss Empfang haben. Er hat Mühe, eine SMS an seine Liebsten abzusetzen, denn inzwischen poppen im Sekundentakt die Eilmeldungen der Raketenwarnapp auf.

Eine Bewohnerin wagt den schnellen Gang zurück in die Wohnung, um ein paar Flaschen Wasser, Becher und eine Tafel Schokolade zu holen. Zur Freude der Kinder und dem Leidwesen ihrer Mutter. Die Stimmung bewegt sich irgendwo zwischen Fatalismus, Galgenhumor und dezenter Hysterie. “Wo ist Avi?”, fragt einer nach dem schwerhörigen Hauswart. Rasch über das Geschehen alarmiert, stößt auch er im Kellerreich zu den anderen. “Ich müsste hier den Schutzraum herrichten” – surreale Gedanken, die eine beruhigende Normalität simulieren.

Stockwerk für Stockwerk gehen die Menschen die Namen der Nachbarn durch. Wer ist unterwegs, wer hat vielleicht den Alarm nicht gehört? Ein Anruf im dritten Stock rechts, bei der philippinischen Pflegerin der beiden Alten, die den Weg in den Keller nicht packen. Sie schlafen. Die Pflegerin kommt mit schlechtem Gewissen herunter, am Telefon die Kollegin vom Haus gegenüber, die allen Anweisungen zum Trotz im Park vor der Tür die Feuerkugeln am Himmel filmt, statt Schutz zu suchen.

Eine knappe Stunde später kommt die erlösende Nachricht: “Nach der Lagebeurteilung wurde entschieden, dass es nun erlaubt ist, Schutzräume in allen Gebieten des Landes zu verlassen”, teilt die israelische Armee um 20.33 Uhr mit. Die Rede ist von rund 180 Raketen, die registriert wurden. Mehrere von ihnen sind in verschiedenen Teilen des Landes eingeschlagen. Zu mögliche Opfern und Schäden gibt es vorerst keine Angaben. Die Bewohner und unfreiwilligen Gäste des Schutzraumes in Talbieh verabschieden sich in eine “hoffentlich ruhige Nacht”. Manche haben ihren (Galgen-)Humor auch jetzt noch nicht verloren. “Bis gleich”, rufen sie und winken in die Nacht.