Rainer Kluck: “Prävention wird immer wieder neu angepasst”

Der Leiter der „Stabsstelle Prävention – Fachstelle gegen sexualisierte Gewalt der Nordkirche“, Rainer Kluck, geht in den Ruhestand. Er ist am Freitag (14. Juni) mit einem Gottesdienst (11 Uhr) in der Apostelkirche in Hamburg-Eimsbüttel verabschiedet worden. Der 1958 geborene evangelische Theologe und Religionspädagoge leitete die Stabsstelle seit 2022. Zuvor war er in anderen kirchlichen Positionen seit 2010 im Bereich Prävention und Intervention tätig. In den zurückliegenden Jahren habe sich die Präventionsarbeit verändert, sagt Kluck im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd): weg von Schutzkonzepten hin zu Schutzprozessen.

epd: Herr Kluck, wie sind Sie einst zum Berufsfeld Prävention gekommen?

Rainer Kluck: Nach meinem Examen war ich von 1985 an im internationalen Jugendaustausch tätig. Als eine Teilnehmerin von einem Gastgeber vergewaltigt wurde, war das für mich wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich merkte: Wenn man in der Leitungs- und in der Fachverantwortung nicht gut vorbereitet ist und im Vorwege keine Handlungsoptionen entwickelt hat, ist man als verantwortlicher Mensch schnell überfordert und die Institutionen kommen in existenzielle Bedrohung. Das war meine Initiation.

Zudem glaube ich, dass ich schon damals Sensibilitäten mitbrachte, die es für diese Arbeit braucht. Sich Menschen zuzuwenden, die Gewalt erfahren haben, fällt mir nicht schwer. Mir geht es darum, Sachverhalte aufzuklären, aufzuarbeiten, mich dabei zugleich und in erster Linie aber um die Menschen zu kümmern, die Leid erfahren haben.

epd: Wie sah die anfängliche Präventionsarbeit in der Nordelbischen bzw. Nordkirche aus?

Kluck: Als ich 2004 im Kirchenkreis Harburg anfing, machte ich schon im Einstellungsgespräch deutlich, dass das Thema „Sexualisierte Gewalt“ ein Querschnittsthema im Bereich Kirche ist. Mein damaliger Chef antwortete mir: „Das Problem haben wir hier nicht.“ Drei Monate später lag die erste Meldung auf meinem Tisch. Ab 2005 nahm ich am Runden Tisch gegen sexualisierte Gewalt in Kirche und Diakonie teil, damals eine Initiative von Fachkräften in der Nordelbischen Kirche.

Präventionsbeauftragte gab es noch nicht. Stattdessen bekamen Gleichstellungsbeauftragte oft einen entsprechenden Auftrag dazu, ohne zusätzliche Stundenausstattung. Viele Kolleginnen waren sehr engagiert, doch es war keine echte Lösung. Ab 2010, als der Missbrauchsskandal der evangelischen Kirche in Ahrensburg öffentlich bekannt wurde, veränderte sich alles.

Mit dem daraus folgenden Rücktritt von Maria Jepsen als Hamburger Bischöfin wurde vielen klar, dass sich Vorfälle wie die in Ahrensburg nicht mit Bordmitteln bearbeiten lassen. So etwas geht nur über intensive Auseinandersetzung. Ich wurde zum Präventionsbeauftragten des Kirchenkreises Hamburg-Ost berufen. Dann kam der Kita-Fall in Schnelsen, woraufhin ich zusätzlich Präventionsbeauftragter für Hamburg-West/Südholstein und dann für den Sprengel Hamburg und Lübeck wurde. Im Sprengel baute ich die erste Fachstelle auf.

2013 kam die Kriminologin Dr. Alke Arns nach Hamburg und baute die Koordinationsstelle Prävention der Nordkirche auf. Ich entwickelte Konzepte und Richtlinien auf Kirchenkreisebene, Alke Arns auf politischer Ebene der Landeskirche bis in die EKD hinein. Die damals neue Bischöfin Kirsten Fehrs machte das Thema zur Chefinnensache, wodurch wir uns auf der Fachebene entwickeln und zunehmend breiter aufstellen konnten. Es war damals eine anstrengende Pionierarbeit, weil es keine ausgetretenen Wege gab, sondern alles neu gemacht und gedacht werden musste. Schließlich entwickelte sich eine Struktur.

epd: Wie hat sich Prävention in den zurückliegenden Jahren verändert?

Kluck: Nach schweren Missbrauchsfällen im nichtkirchlichen Bereich trat 2005 das Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetz in Kraft. Jugendhilfeeinrichtungen mussten fortan verpflichtend Schutzkonzepte entwickeln und es wurde deutlich: Schutzkonzepte sind die Instrumente erster Wahl in der Prävention. Das haben wir uns sehr schnell zu eigen gemacht.

Nun streben wir den Weg hin zur evidenzbasierten Prävention an. Das heißt, wir nehmen uns die Zeit, immer wieder draufzuschauen und immer wieder nachzufragen, ob das, was wir tun, die erhoffte Wirkung hat. Prävention ist schwer zu konfigurieren, wenn man nicht weiß, was die Ursachen sind. Deshalb sind wir den Weg gegangen, verstehen zu wollen, warum Dinge passieren. Aus solchen Erkenntnissen heraus wird Prävention immer wieder neu angepasst.

Was sich ebenfalls verändert hat: Damals lautete die Idee, ein Schutzkonzept für alle zu schreiben, es als Broschüre zu drucken und zu verteilen – in der Hoffnung, dass das dann funktioniert. Heute ist klar: Das bringt überhaupt nichts. Denn eine Broschüre verschwindet in der Schublade. Stattdessen gilt: Alle in der Kirche müssen sich damit auseinandersetzen, alle müssen sprachfähig werden, alle müssen erkennen, welches die spezifisch kirchlichen Risikofaktoren sind. Wir brauchen ein Problembewusstsein, eine Sensibilität dafür, was sexualisierte Gewalt überhaupt ist. Denn was ich nicht kenne und wofür ich nicht sensibel bin, das kann ich nicht wahrnehmen.

Wir sprechen heute nicht mehr von Schutzkonzepten, weil das von der Begrifflichkeit her etwas Statisches hat. Stattdessen fragen wir: Wie moderieren wir Schutzprozesse? Wie implementieren wir sie in die Kirchengemeinden und den Alltag?

Wir lassen inzwischen auf der Meta-Ebene immer so eine Art Film mitlaufen, der uns die Prüfroutinen aufzeigt: Bin ich zu nah dran? Bin ich verbal übergriffig? Wie handeln wir eigentlich Nähe und Distanz aus? Fällt mir etwas auf? Haben wir Beschwerdemöglichkeiten in der Gemeinde, an die sich Menschen wenden können? Und wenn ja: Wird dem Gesagten dann auch konsequent nachgegangen? All diese Fragen entwickeln sich ständig weiter, sprich: Die Schutzprozesse haben eine hohe Eigendynamik. Das sind die Initialzündungen. Sämtliche Institutionen in Kirche und Diakonie sind mit diesen Prozessen unterwegs und können sich intensiv damit auseinandersetzen. Die Stabsstelle unterstützt sie dabei.

Ein weiterer wichtiger Pfeiler ist das 2018 beschlossene Präventionsgesetz der Nordkirche. Es stellt eine rechtlich verbindliche Grundlage dar und hat somit eine ganz andere Durchschlagskraft.

Und wir sind gewachsen. Inzwischen sind wir über 30 Fachkräfte in der Nordkirche, davon zehn Stellen in der Stabsstelle, die sich beruflich mit Prävention befassen. Hinzu kommen ganz viele, die in ihrem Beruf das Thema mitdenken.

epd: Nach Veröffentlichung der ForuM-Studie Anfang 2024 über sexualisierte Gewalt in der evangelischen Kirche sagten Sie dem epd, die Studie sei „ein Schatz, aber der Schatz muss gehoben werden“. Wie weit ist es der Nordkirche gelungen, diesen Schatz zu heben, und wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?

Kluck: Jede Fachkollegin im Team der Stabsstelle hat sich einen Teil der Studie vorgenommen, analysiert, und wir haben uns gegenseitig informiert. Wir haben darüber diskutiert, was die Inhalte für unsere fachliche Arbeit bedeuten und wo wir ansetzen können. Das muss fortgesetzt werden, weil sich das in Schichten entfaltet – so wie bei einer Zwiebel. Wir müssen an die Kerne der Ergebnisse kommen.

ForuM war auch Thema bei der Landessynode im Februar. Ich habe einen Bericht gehalten, und wir haben statt der ursprünglich vorgesehenen einen Stunde zweieinhalb Stunden debattiert. Das Präsidium sagte im Anschluss: Das war für die Synode die Chance, beim Thema „Sexualisierte Gewalt“ einen guten Schritt weiterzukommen – emotional, fachlich und politisch.

Im Übrigen sollten wir nach fünf Jahren das Präventionsgesetz evaluieren. Da werden die Ergebnisse der ForuM-Studie jetzt direkt eingespeist.

Und wir haben Ende April das 4. Fachforum Prävention durchgeführt. Das Oberthema lautete „Betroffenenorientierung“, denn wir haben den Impuls aus der ForuM-Studie aufgegriffen, dass Betroffene signalisiert haben: „So wie Kirche mit uns umgeht, ist es nicht in Ordnung. Ihr habt nichts gelernt.“ Wir haben darüber diskutiert, dass wir Betroffene nicht ausgrenzen dürfen, sondern dass wir sie mit in die Institution, in die Gemeinschaft hineinnehmen müssen.

ForuM hat zudem das Bewusstsein in den Gemeinden weiter gestärkt. Noch mehr Gemeinden als bisher arbeiten jetzt immer intensiver und vertrauensvoller mit der Stabsstelle und den Präventionsbeauftragten in den Kirchenkreisen zusammen. Die 13 Präventionsbeauftragten sind vor Ort in den 13 Kirchenkreisen die richtigen Ansprechpartner. Wir wiederum arbeiten viel mit ihnen zusammen.

Es ist schon viel erreicht, aber viel mehr liegt noch vor uns. Bewährte Grundlagen müssen auf den Prüfstand, wie auch das Präventionsgesetz, weil wir heute weiter sind mit neuen Erkenntnissen, Erfahrungen und Problemen. Ich bin vor allem den Betroffenen dafür dankbar, dass sie uns dabei voranbringen mit ihren Forderungen und mit ihren Beiträgen.