Kurz vor meinem Vorderrad streicht ein grauer Schatten über die Straße, ein langer, buschiger Schweif verschwindet links von mir in der Böschung. Wenige Meter weiter sehe ich zwei weitere. Lautlos verschwinden sie, die grauen Farbtöne verschmelzen am Rande meines Lichtkegels mit dem sich wiegenden Gras. Ich frage mich kurz, ob ich geträumt habe, so unwirklich wirkt es.
Es wäre kein Wunder, schließlich ist es Viertel nach drei morgens und stockdunkel. Bis jetzt bin ich etwas mehr als 75 Kilometer gefahren, den Großteil in der Dunkelheit. Bald bin ich mit mir einig, dass ich wohl doch gerade ein kleines Wolfsrudel überrascht habe.
Lieber mit geschlossenem Mund fahren
Ungefähr 125 Kilometer sind es vom Bremer Hauptbahnhof bis zum Fähranleger Hamburg-Finkenwerder. Meine Route folgt meist dem Radfernweg zwischen Bremen und Hamburg und führt zum größten Teil über sehr wenig befahrene Straßen, Feld- und Waldwege. Ich sehe in der ganzen Nacht nicht einmal eine Handvoll Autos – dafür aber Tiere, sehr viele Tiere.

Kaum nähere ich mich dem Bremer Wümmedeich, sehe ich schon einen Reiher, der im schwindenden Licht über den Wiesen kreist. Ich fahre durch Insektenschwärme, halte an, nachdem ich eine Mücke verschluckt habe, und erhole mich von einem Hustenanfall. Und merke mir, dass es besser ist, durch die Nase zu atmen. Das klappt nicht immer, weshalb noch diverse Insekten in meinem Magen landen.
Langsam wird es immer dunkler. Ich merke, wie die Umgebung ihre Farbe verliert, sich Grün- in Grautöne wandeln, der Himmel nur noch weit im Nordwesten in einem dunklen Orange schimmert.
Die Welt wird zu einer Traumlandschaft
Kurz vor Fischerhude wird es dann wirklich dunkel. Was Bauern nicht davon abhält, mit großer Geschwindigkeit mit ihren Maschinen über Feldwege zu brettern. Zum Glück sind sie mit Flutlicht umgeben, sodass ich ihnen gut aus dem Weg gehen kann.

Nachdem ich den Ort durchquert und ein junges Pärchen auf einer Parkbank verschreckt habe, bin ich allein auf der Straße. Ich halte auf einer Anhöhe, schaue dem untergehenden Mond zu. Kurz bevor er verschwindet, verwandelt er sich von einer Sichel in ein dreidimensionales, von der Sonne angeleuchtetes Objekt.
Ich fahre weiter, komme durch Dörfer, die Dipshorn, Vorwerk und Winkeldorf heißen. Hier kommt mir ein einsamer Radfahrer mit hellem Licht entgegen. Kurz habe ich die Idee, es könnte mein gespiegeltes Ich sein, das den umgekehrten Weg nimmt und jetzt nach Bremen fährt. Die Nacht bringt andere Gedanken hervor als der Tag. Schlaflosigkeit auch.
Im meditativen Rhythmus durch die Nacht
Der Weg führt durch das Stellingsmoor, die weißen Stämme der Birken markieren meinen Weg, die Luft fühlt sich kühl und feucht an. Kaum bin ich am Rand des Moores, wird es wieder wärmer. Die Hitze des letzten Tages wird wieder spürbar. Heller aber wird es nicht.

Ich habe jetzt mehr als 60 Kilometer hinter mir und falle immer wieder in einen meditativen Rhythmus. Trete ruhig, wenn es eher aufwärts geht, und schalte in die schweren Gänge, wenn es wieder bergab geht und ich schnell durch die Nacht gleiten kann.
Immer wieder komme ich mir vor wie ein Schatten, der durch Dörfer huscht, in denen kein Licht mehr brennt, wenn ich geteerte Feldwege entlangfahre, die Geschwindigkeit genieße. Nur noch der Fahrtwind in den Ohren, das seltene Klacken der Schaltung mein einziges Geräusch.
Gast in einer Welt, die nicht Menschen gehört
Das Fehlen von Licht und Farbe schärft andere Sinne. Ich nehme Gerüche intensiver wahr, spüre selbst kleine Temperaturunterschiede sehr deutlich, vor allem mein Gehör ist viel aufmerksamer. Aus den Feldern kommen Geräusche. Manchmal raschelt etwas durch das Gras, Rehe bellen in der Nähe, manchmal flattert etwas durch den Wald.
Ich verschmelze mit meiner Umgebung. So fühlt es sich oft an – zumindest so lange, wie ich auf geteerten Wegen unterwegs bin. Sobald der Untergrund uneben wird, knirscht und rattert es, klappern Werkzeuge in meiner Lenkertasche, und ich fühle mich als ungebetener Gast, der nur Unruhe verbreitet in einer Welt, die um diese Uhrzeit nicht den Menschen gehört, sondern den Tieren.
Rehe, Kaninchen und Hasen springen zur Seite, verschwinden schnell von der Straße. Katzen hingegen – von denen es sehr viele gibt – schauen mich kurz an, drehen sich dann demonstrativ gelangweilt weg.
In Grauen geht die Sonne auf
Kurz nach meiner Wolfsbegegnung, irgendwo zwischen Heidenau und Hollenstedt, beginnt die Morgendämmerung. Im Wald kann ich den sandigen, ausgefahrenen Weg schon gut erkennen – was gut ist, hier sind tückische Sandlöcher, in denen ich mich mit meinen schmalen Reifen festfahren könnte.
Langsam kehrt die Farbe in die Welt zurück, Buchfinken zwitschern in den Bäumen, die Bachstelzen beginnen ihr ewiges Spiel mit Radfahrern: Sie landen auf der Straße, fliegen erstaunt auf, wenn ich mich nähere, landen zwanzig Meter weiter wieder auf der Straße, fliegen erstaunt auf und machen so weiter.
Ich freue mich über den Zufall, der die Sonne direkt hinter dem etwas unglücklich benannten Ort Grauen aufgehen lässt, und habe nur noch knappe 20 Kilometer bis Hamburg vor mir. Dort lasse ich mich über die Elbe fahren, schiebe mein Rad den Elbhang hoch und freue mich bei einem Kaffee darüber, dass es gar nicht viel braucht, um die Welt einmal aus ganz anderen Augen zu sehen.
Die Rad-Route von Bremen nach Hamburg können Sie mit hier beim Kartendienst Komoot nachverfolgen.
