Psychologin: Stressreaktion klar von psychischer Erkrankung trennen
ADHS ist nicht nur auf Social Media ein Dauerbrenner: Immer mehr Menschen haben das Gefühl, davon betroffen zu sein. Ob sie wirklich an ADHS leiden oder unter einer Stressreaktion, ist laut einer Expertin entscheidend.
Unaufmerksamkeit, innere Anspannung und Impulsivität – diese Phänomene, die viele Menschen betreffen, können sowohl auf ADHS hindeuten als auch auf eine Stressreaktion. Das sagte die Psychologin Karoline Klemke der Zeitschrift “Psychologie Heute” (Oktober-Ausgabe). Daher fänden sich viele Menschen auf den ersten Blick in ADHS-Verhaltensbeschreibungen wieder, auch wenn diese Erkrankung nicht vorliege.
Um beides zu unterschieden, brauche es eine gründliche Anamnese und Diagnose. “Wenn man eine normale Anpassungsreaktion des Organismus mit einer Erkrankung verwechselt, entsteht ein Problem”, mahnte Klemke. “Statt die äußeren Bedingungen zu ändern, würde man den Organismus durch Medikamente dazu bringen, krankmachende Bedingungen zu tolerieren.” Dazu zähle, wenn es im Alltag undenkbar sei, ausreichend Zeit für die Familie, Bewegung, gesunde Ernährung oder Erholung in der Natur zu finden.
Es sei “segensreich”, dass im Internet heutzutage psychologisches Wissen viel leichter verfügbar sei. “Aber gleichzeitig besteht das Risiko, dass wir uns selbst vorschnell als krank einschätzen”, so die Expertin. In einer Leistungsgesellschaft biete eine Diagnose auch eine Möglichkeit, sich zu schützen: “‘Ich bin krank. Ich kann mich nicht so kontrollieren, wie ihr es von mir wollt.’ Das bedeutet Entlastung und ist gleichzeitig ein Teufelskreis.”
Eine ADHS-Erkrankung beginne bereits in der Kindheit und trete situationsunabhängig auf; um sie zu diagnostizieren, kann das Leid der Betroffenen laut Klemke zudem nicht besser durch andere Ursachen erklärt werden. Zur Debatte, ob es sich überhaupt um eine Erkrankung handle oder um eine neurodiverse Ausprägung, sagte sie: “Menschen sind äußerst nuanciert”. Das Menschsein sei etwas “Fluides, Wandelbares, Verletzbares. Diese Verletzbarkeit anzunehmen und damit den eigenen Weg zu finden, halte ich für die eigentliche Aufgabe.”
Derzeit gebe es eine Tendenz, den “kreativ-chaotischen Leistungstyp” zu pathologisieren, kritisierte die Psychotherapeutin. Diese Menschen zeichneten sich durch “tiefere Emotionalität, höhere Gleichzeitigkeit und Assoziationsbreite” aus, diese Kinder kämen oft in der Schule nicht gut zurecht. “Aber Kreativität, Innovation und künstlerisches Schaffen sind wichtige Säulen unserer Gesellschaft. Sie entstehen nicht allein durch abstraktes, logisch-serielles Leisten”.