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Psychologin: Seit 7. Oktober leben Juden in “paralleler Realität”

Ihre Stimmen werden oft nicht gehört. Ein Interview-Projekt macht es Jüdinnen und Juden in Deutschland möglich, über ihre Erfahrungen seit dem 7. Oktober 2023 zu sprechen.

Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 leben Jüdinnen und Juden außerhalb Israels oft in einer “parallelen Realität” – das sagte die Psychologin Marina Chernivsky dem Deutschlandfunk (Mittwoch). Es handele sich um eine Erfahrung, die sich kollektiv verdichtet habe. Sie erlebten etwas, das andere Menschen nicht erlebten und verstünden Dinge, die andere nicht verstünden. So etwas sei insgesamt eine Erfahrung von Minderheiten. Was den 7. Oktober angehe, spürten Jüdinnen und Juden ein zusammengebrochenes Vertrauen, Schutzlosigkeit und Verwundbarkeit.

Chernivsky leitet Ofek, eine bundesweite Opferberatungsstelle bei antisemitischer Gewalt und Diskriminierung. Ofek ist Trägerin des Projekts “Kolot”, das Interviews mit Betroffenen über die Zeit seit dem 7. Oktober sammelt. In diesen Gesprächen erlebe sie, dass es eine Zeit des “Aneinanderrückens” in der jüdischen Gemeinschaft gebe. Die jüdische Tradition könne möglicherweise tragen, das habe sie über Jahrtausende getan, sagte Chernivsky. Auch die religiöse Praxis könne “einiges”, auch für Menschen, die vielleicht nicht religiös lebten.

Der 7. Oktober habe Ängste und Sorgen ausgelöst. Das, was die Menschen in den Interviews beschrieben, sei noch nicht abgeschlossen. Die Auseinandersetzung mit einem “extrem traumatischen Ereignis” für Juden weltweit dauere an. Sie erlebten zerbrechende Freundschaften, Ablehnung und Hass. Dafür müsse erst einmal eine eigene Sprache gefunden werden.

“Das Massaker am 7. Oktober 2023 bedeutet für die jüdische Gemeinschaft eine tiefe Zäsur”, heißt es bei “Kolot”. Das von Chernivsky entwickelte Projekt reflektiere durch Interviews die Folgen des Angriffs. Das Projekt versteht sich als audiovisuelles Archiv und Zeitdokument. Es geht den Angaben zufolge um persönliche Erzählungen und zeitgeschichtliche Zeugnisse über jüdisches Leben und Antisemitismus in Deutschland. Diese Stimmen würden in der öffentlichen Wahrnehmung oft marginalisiert und überhört.