Psychologe: Nicht jede vorübergehende Krise ist eine Erkrankung
Psychotherapie als Lifestyle? Das könnte man so sehen, sagt ein Psychologe. Er warnt vor dramatischen Folgen – für Menschen mit ernsthaften Erkrankungen, aber auch für die gesamte Gesellschaft.
Immer mehr Gefühle und Verhaltensweisen werden aus Sicht eines Psychologen als krankhaft aufgefasst. “Die Gesellschaft neigt dazu, immer mehr als ‘psychische Störung’ zu betrachten”, sagte Marcus Roth im Interview der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” (Mittwoch). Daher nähmen auch zunehmend Menschen eine Therapie in Anspruch, “die keine psychische Störung im engeren Sinn aufweisen, sondern eher eine normale und häufig vorübergehende Krise durchleben”.
Er sehe die Gefahr, dass immer mehr Aspekte des Lebens ausgeschlossen würden. Als Beispiel nannte Roth die Trauer: “Früher war ein Todesfall im nahen Umgeld ein Ausschlusskritierium für eine Depression. Das wurde nun gestrichen.” Wer 14 Tage nach einem Todesfall noch tieftraurig sei, könne nun als depressiv eingestuft werden. “Wir akzeptieren Trauer nicht mehr als normale Spielart des Seins. Dabei wird jeder zweite Ehepartner den Tod des anderen erleben, und fast jeder wird den Verlust der Eltern erfahren. Es hat sich die Vorstellung verbreitet, dass das Leben grundsätzlich schön sein muss und alles Unangenehme unnormal ist.”
Psychotherapie könne auch guttun, wenn jemand nicht psychisch erkrankt sei, fügte der Wissenschaftler hinzu. “Aber das ist kein Grund, dass die Solidargemeinschaft sie finanzieren sollte.” Mitunter seien in solchen Fällen schon wenige Sitzungen mit einem Therapeuten hilfreich, “Selbsthilfegruppen, Online-Angebote oder Coaching-Angebote”. Dies gelte nicht für schwere peschische Erkrankungen. “Aber bei Fragen, wie man mit Stress umgeht oder sich bei der Arbeit besser organisiert, kann ein Coach durchaus helfen.”
Für Menschen, die schwer erkrankt seien, fehlten durch diese Entwicklung oftmals Therapieplätze, kritisierte Roth. 20 Wochen durchschnittliche Wartezeit und zahlreiche Anrufe in Praxen seien für Betroffene einer schweren Depression oder Angststörung “eine nahezu unüberwindbare Hürde”. Zudem befürchte er mittelfristig Einsparungen bei der Psychotherapie. “Das wäre fatal, denn es gibt sehr viele Menschen, die dringend eine Therapie brauchen. Darum müssen wir jetzt darüber sprechen, wo noch eine vernünftige Diskussion möglich ist.”