Politikwissenschaftlerin über das Vertrauen in die eigene Kraft

Was esse ich heute Abend? Wohin verreise ich nächstes Jahr? Wie sorge ich für meine Rente? Alle Menschen erzeugen ständig Zukunft: der Einzelne ebenso wie Staaten, Unternehmen und Fußballvereine. „Der Mensch ist das Wesen, das die Fähigkeit hat, sich die Zukunft so detailliert vorzustellen, dass es sie erschaffen kann“, schreibt Politikwissenschaftlerin Florence Gaub in ihrem jetzt erschienenen Buch „Zukunft – eine Bedienungsanleitung“.

Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach mit der Militärstrategin, die den Forschungsbereich Zukunft am NATO Defense College in Rom leitet, wie die persönliche und kollektive Zukunft zusammenhängen, warum die Deutschen Zukunftsmuffel sind und wie man das Vertrauen behält, die eigene Zukunft gestalten zu können.

KNA: Frau Gaub, wieso haben Sie dieses Buch geschrieben?

Florence Gaub: Ich beschäftige mich beruflich mit strategischer Vorausschau. Und dabei habe ich festgestellt, dass es in Deutschland eine Art Zukunftslosigkeit gibt: Pessimismus ist weit verbreitet, und es herrscht regelrecht Zukunftsangst. Deshalb habe ich das Buch als Anleitung geschrieben, so dass wirklich jeder es benutzen kann. Um den Leuten zu helfen, ihren Weg dahin zurückzufinden, was eigentlich jeder Mensch kann: nämlich aktiv über die Zukunft nachdenken und sie gestalten.

KNA: Sind die Deutschen Zukunftsmuffel?

Gaub: Die kurze Antwort ist: ja, aber das war auch nicht immer so. Es gibt mehrere Gründe dafür: einmal sind wir kulturell eher kurzfristig „verkabelt“, denken im Gegensatz zu asiatischen Ländern kurzfristiger. Hinzu kommt, dass wir das Zukunftsideal der 1960er Jahre – Wohlstand für alle – inzwischen größtenteils erreicht haben. Diese Idee motivierte nach 1945 für lange Zeit für die Zukunft, aber das haben wir nun nicht mehr. Wir sind quasi zukunftslos aktuell.

KNA: Was ist – etwa in China – anders?

Gaub: Das Thema Zukunft ist nicht überall so negativ besetzt wie bei uns, zum Beispiel in Saudi Arabien oder eben auch in China. Die politischen Systeme mag man ablehnen, aber in beiden Ländern besetzen Regierungen das Thema Zukunft positiv. Staatspräsident Xi Jinping stellt sich hin und sagt: „Ich verspreche Euch, dass China im Jahr 2049 auf der Weltbühne gelten wird“. Und solche Statements macht er die ganze Zeit, also stellt ganz klar in Aussicht, bis zum Jahr soundso haben wir das und das erreicht. Wenn man das paart mit diesem unglaublichen Fortschritt im Wohlstand, den viele Chinesen in den vergangenen 20 Jahren erlebt haben, dann sagen sie: „Ja, das halten wir für erreichbar, denn wir haben ja auch den anderen Fortschritt erlebt.“

KNA: Und in Deutschland?

Gaub: Verglichen mit anderen Ländern ist Deutschland in institutioneller Hinsicht nicht besonders zukunftsfähig. Es gibt nicht viele staatlich verankerte Institutionen, die sich mit dem Thema beschäftigen. Im Bundeskanzleramt etwa gibt es eine kleine zukunftsvorausschauende Einheit, aber die hat nicht den Status, den sie bräuchte. Und seit den frühen 2000ern beschäftigt sich auch der Bundestag immer weniger mit der Zukunft, hat eine Studie gezeigt.

KNA: Ist Zukunftsdenken nicht reine Theorie?

Gaub: Durch Gehirnscans wissen wir mittlerweile, dass in unseren Gehirnen die Zukunft fast so real ist wie die Gegenwart – und realer und emotionaler als die Vergangenheit. Der Mensch denkt grundsätzlich ständig an die Zukunft. Die Hälfte aller Gedanken, die man an einem Tag hat, befassen sich mit der Zukunft. Und bei den Gedanken, die sich mit der Vergangenheit befassen, geht es meist darum, was dies für die Zukunft bedeutet.

Aus diesem Grund sind manche der Meinung, dass wir gar nicht Homo Sapiens sind, der vernünftige Mensch, sondern Homo Prospectus, ein Wesen, das nicht durch seine Fähigkeit zur Vernunft definiert ist, sondern durch seine Fähigkeit, mental in die Zukunft zu reisen. Die Hauptherausforderung bei der Zukunft ist, dass von ganz vielen Möglichkeiten immer nur eine stattfinden wird.

KNA: Die nahe persönliche Zukunft gestalten wir ständig – vom Einkaufen bis zur Urlaubsplanung. Wie aber kann man – als Normalbürger – die kollektive Zukunft Deutschlands oder gar unseres Planeten mitgestalten?

Gaub: Wir alle sind die ganze Zeit Agenten der Zukunft, natürlich nicht jeder im gleichen Maße. Wenn man mehr erreichen will, muss man sich einer größeren Gruppe anschließen – zum Beispiel einer Partei oder einer Nichtregierungsorganisationen beitreten.

Aber: Zivilgesellschaftliches Engagement – das muss man dann natürlich auch machen. Und ich habe fast das Gefühl, dass die Leute ein bisschen faul sind. Man muss auch schon den Leidensdruck haben zu sagen, ich möchte tatsächlich verändern – wie etwa die jungen Klimaaktivisten.

KNA: Klimawandel, Krieg, Inflation: Der eine oder andere will sich vielleicht einsetzen, kann es aber nicht, weil er Zukunftsangst hat. Nun ist ja Angst bekanntlich kein guter Ratgeber…

Gaub: Ja, Katastrophendenken ist lähmendes Gift. Das Wichtigste ist, zu verstehen, dass diese Angst korreliert mit dem Auftreten des Internets. Diese Flutung mit schrecklichen Nachrichten kann dazu führen, dass man ständig Angst hat – weil man im Grunde genommen mehr weiß, als man wissen muss.

Ich habe lange in der Terrorforschung gearbeitet. Ich habe mir aber nicht all diese schlimmen Videos angeschaut, weil ich genau wusste, ich halte das mental nicht aus. Und es ist auch nicht nötig, weil ich nicht immer etwas dabei lernen kann. Man sollte sich also eine Art Informationsdiät zulegen.

KNA: Was kann man tun, wenn man trotzdem Angst bekommt?

Gaub: Dann sollte man versuchen, die Angst erstmal runterzufahren – mit Dingen, die einem guttun: im Wald spazieren gehen, beten, Tiere streicheln. Das klingt banal, ist aber wichtig. Als Erwachsener sollte man wissen, wie man sich selbst aus seiner Angst wieder herausholt.

Hinzu kommt: selbst aktiv werden. Je mehr Einfluss wir auf etwas haben, je weniger Angst haben wir davor. Also etwa zum Klimawandel nicht nur recherchieren, sondern sehen, was man selbst dagegen tun kann.

Bei manchen Dingen, wie einem Atomkrieg, muss man erkennen: Da kann ich nichts beeinflussen als einzelner Mensch, da muss man sich in Akzeptanz üben – sollte sich aber nicht ständig vorstellen, dass das passieren könnte. Der Holocaustüberlebende Victor Frankl nannte das optimistisches Katastrophendenken. So eine Mentalhygiene, also wissen, wie man seinen Geist managt, das ist heutzutage extrem wichtig.

KNA: Haben wir nicht auch viel Grund zu Optimismus? Gaub: Absolut. Es hat sich in den vergangenen Jahrzehnten so viel zum Guten entwickelt: Es gibt weltweit weniger Armut und viel mehr Wohlstand, weniger Kindersterblichkeit, mehr Frauenrechte. Und gerade in der Wissenschaft gibt es so viele positive Nachrichten – neue Medikamente, die auf den Markt kommen, gegen Alzheimer oder gegen Krebs. Insgesamt ist alles besser geworden, seitdem ich in den 1970er Jahren geboren wurde. Außer das Klima. Aber das müssen wir jetzt als nächstes angehen.