Pirouetten auf der Kirchenwand

Virtueller Ballett-Tanz erobert die Stadt

Karlsruhe (epd). Es ist ein magischer Moment nach Einbruch der Dunkelheit: Ballerinas drehen waghalsige Pirouetten auf einem kleinen Mauervorsprung in luftiger Höhe. Ein «Ah» und «Oh» ist vom Publikum zu hören, Smartphones werden gezückt. Zu sphärischen Musikklängen bewegen sich die Tänzerinnen und Tänzer auf der Fassade der katholischen Stadtkirche St. Stephan in Karlsruhe.

   Angst vor einem Sturz der Tänzer des Badischen Staatstheaters, die gleichzeitig auf fünf Ebenen tanzen, muss am Donnerstagabend niemand haben. Die farbenfrohe Lichtinszenierung wurde im Studio aufgezeichnet und mithilfe von digitaler Projektionstechnik auf die Fassade gestrahlt.

   Dabei arbeitet das Staatsballett Karlsruhe mit dem Medienkünstler Jonas Denzel zusammen. Seine Idee: Medienkunst mit Architektur und Tanz zusammenzubringen. Die Projektionen sollen sich in die Umgebung integrieren und genau an das jeweilige Objekt anpassen, sagt Denzel. Er will die Menschen überraschen und ihnen eine neue Sicht auf den Stadtraum ermöglichen.

   Auch an dem verregneten Abend bleiben vor der Stadtkirche St. Stephan spontan Menschen stehen und lassen sich von der Inszenierung verzaubern. Eine davon ist Laura. «Man spürt die Wärme durch die Musik, trotz des Regens», sagt die 23-Jährige, die gemeinsam mit ihrer Mutter gekommen ist. Die beiden Ballett-Fans sind sich sicher, dass sie mindestens zwei der virtuellen Tänzer aus dem aktuellen Ballett-Ensemble erkennen.

   Bekannt wurde Denzel 2018 mit seiner Projektionsshow «Hands on», die er für die Karlsruher Schlosslichtspiele entwickelte. Virtuelle Hände klopften und klatschten auf die Schlossfassade und animierten so das Publikum zum Mitmachen.

   Projektionsmapping nennt sich das Verfahren, mit einem Projektor beliebig strukturierte Oberflächen angepasst zu beleuchten. Dazu vermisst der Medienkünstler das Gebäude zuvor genau, denn die Strukturen der Fassade und Details wie Mauervorsprünge oder Fenster werden in den Tanz integriert.

   Danach werden die Tänzerinnen und Tänzer in einem «Greenscreen», einem komplett grünen Raum, gefilmt. Somit ist ihre Choreografie später auf der Fassade ohne Hintergrund zu sehen. Verwendet wird die Technik etwa auch bei Spielfilmen. Damit er solche Lichtinszenierungen nachhaltig machen kann, hat der Künstler das
«Beambike» entwickelt, ein E-Lastenfahrrad, das mit mobiler Projektionstechnik ausgestattet ist.

   Noch bis 26. Mai ist das «Ballet of the City» immer donnerstags nach Einbruch der Dunkelheit an verschiedenen Orten zu sehen. Das Medienkunst-Projekt wird im Rahmen der «Unesco-City of Media Arts» gefördert, ein Titel, den Karlsruhe als einzige deutsche Stadt seit 2019 innehat.

   Vor der katholischen Stadtkirche sind auf einmal laut quietschende Bremsen eines Radfahrers zu hören, der plötzlich stoppt und sich vom Fassadentanz in Bann ziehen lässt. Wieder und wieder drehen die Tänzerinnen ihre Pirouetten auf Spitzenschuhen und tanzen durch die Dunkelheit – bis sie schließlich verschwinden und ihre Bühne wieder zu einer ganz normalen Kirchenmauer wird.