Pflegende in Niedersachsen brauchen selbst Unterstützung

Mehr als 400.000 Menschen werden in Niedersachsen zu Hause gepflegt. Von ihren Angehörigen. Die kämpfen um Unterstützung, Gelder und darum, sich beim Pflegen nicht selbst zu verlieren.

Christiane Hüppe mit ihrem Pflegesohn Jason.
Christiane Hüppe mit ihrem Pflegesohn Jason.Josef Hüppe

Gisela Löhberg war Ende 40, als ihr Mann durch eine Hirnblutung von einem Tag auf den anderen pflegebedürftig wurde. Zuvor hatte sie sich bereits einige Jahre um ihre Eltern gekümmert. „Wer nicht selbst schon mal gepflegt hat, kann sich kaum vorstellen, was das bedeutet“, sagt die studierte Apothekerin heute. Seit 16 Jahren leitet sie eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige, die sich einmal im Monat im Gemeindehaus der Osnabrücker Bonnuskirche trifft.

Denn die Belastung pflegender Angehöriger steigt. Das zeigt auch eine repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag der AOK. Wer einen Angehörigen pflegt, muss mit einer höheren Belastung zurechtkommen als noch vor fünf Jahren. Gaben die Befragten 2019 an, 43 Wochenstunden für die Pflege wie Ernährung, Körperpflege und Medikamentengabe zu benötigen, liegt der Zeitbedarf inzwischen bei 49 Stunden.

Das wirkt sich auch auf die Berufstätigkeit aus. „Wenn man beispielsweise die eigene Mutter dabei unterstützt, ihre Medikamente zu nehmen, oder beim Einkaufen hilft, dann bekommt man das noch relativ gut hin“, erklärt Löhberg. „Bei notwendiger Betreuung müssen viele Pflegende allerdings ihren Beruf aufgeben oder reduzieren.“ Teilweise unterstützt durch einen ambulanten Pflegedienst oder von einer Tagespflege, oft jedoch ohne. Denn Plätze sind rar.

543.000 Niedersachen haben einen Pflegegrad

Zeigt der Pflegebedürftige dann auch noch „herausforderndes Verhalten“, ruft laut, läuft weg, braucht eine 1:1-Betreuung, wird es noch schwieriger, einen Platz in der Tagespflege zu finden. Entschieden wird oft nach wirtschaftlichen Kriterien. Hinzu kommt der steigende Personalmangel. „Die Pflege-Triage nimmt zu.“

In Niedersachsen gab es 2021 laut Statistischem Landesamt 543.000 Menschen mit Pflegegrad. „84 Prozent dieser Menschen werden zu Hause versorgt“, sagt Löhberg. Die pflegenden Angehörigen sind der größte Pflegedienst der Nation. Dennoch müssen sie darum kämpfen, gesehen zu werden – gesellschaftlich und politisch. „Viele Angehörige pflegen 24 Stunden, sieben Tage die Woche, an 365 Tagen im Jahr – die können nicht einfach für eine bessere Unterstützung und Entlastung streiken“, sagt Löhberg. Viele Pflegende leben am Rande ihrer eigenen Kräfte. Nachts alle zwei Stunden umlagern. „Das Schlaf­defizit begleitet einen noch lange“, erzählt Löhberg. Noch zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes sei sie alle zwei Stunden aufgewacht.

Veränderung durch politische Tätigkeit

Inzwischen hat Gisela Löhberg diese Kräfte wieder und setzt sie für pflegende Angehörige ein. „Wenn man etwas verändern möchte, muss man politisch werden“, sagt sie, lässt sich in den Osnabrücker Seniorenbeirat wählen, vernetzt sich über den Verein „wir pflegen, eine Interessen- und Selbsthilfeorganisation für pflegende Angehörige.

Dort arbeitet auch Christiane Hüppe im Vorstand. Mit ihrer Familie, zu der auch ihr elfjähriger Pflegesohn Jason gehört, lebt sie in Hannover. Jason ist schwerst mehrfach behindert. Dreimal in der Woche kommen zwei Schüler der Schule für Heilerziehungspflege zu Jason und gehen mit ihm in die Stadt, zum Schwimmen – machen Dinge, die junge Menschen gerne ohne ihre Eltern machen. „Auch behinderte Kinder machen eine Ablösung von ihren Eltern durch“, erklärt sie.

Eltern vor der Kapitulation

Doch nicht jeder habe ein stabiles Netzwerk. Sie berichtet von Familien, die Spielplätze mieden, weil ihr behindertes Kind für die anderen Familien zu anders sei. „Irgendwann ist man mürbe von der Ablehnung der anderen. Familien ziehen sich zurück.“ Großeltern, Freunde oder Nachbarn springen bei der Betreuung pflegebedürftiger Kinder seltener bei. „Es ist ähnlich wie im Demenzbereich: Diejenigen, die eine 1:1-Betreuung brauchen, bekommen keinen Platz in der Tagespflege – dabei bräuchten gerade diese Familien Entlastung“, so Hüppe. Hinzu komme der bürokratische Aufwand. „Wer 24 Stunden am Tag pflegt, kapituliert schnell und ruft die Gelder gar nicht ab.“

Doch was muss geschehen, damit pflegende Angehörige entlastet werden? Löhberg spricht sich für ein persönliches Budget, abhängig vom Ausmaß der Pflegebedürftigkeit, anstelle vieler Einzelleistungen der Pflegeversicherung aus. So könne flexibler auf die jeweilige individuelle Pflegesituation reagiert werden. Aber auch gesamtgesellschaftlich müsse sich etwas ändern. „Wir brauchen ein völlig neues Konzept für die Pflege“, so Hüppe. Dafür müsse sich auch der Blick auf behinderte und pflegebedürftige Menschen ändern. Wohlwollend und mit Interesse. Und auf die vielen Tausend Angehörigen. „Pflege ist über kurz oder lang für jeden ein Thema – entweder weil wir pflegen oder selbst gepflegt werden.“

Mehr Infos unter www.wir-pflegen.de und www.pflegende-angehoerige-os.de