Pfarrer Weber testet Freikirche „Life Berlin“

Ohne Altar und Orgel. Der Berliner Pfarrer Viktor Weber aus Spandau besuchte einen freikirchlichen Gottesdienst in Berlin. Seine Erfahrungen sind gemischt, aber bereichernd. Ein Erlebnisbericht.

Weingarten, Hinweisschilder für Gottesdienste
Weingarten, Hinweisschilder für GottesdiensteImago / Gustavo Alabiso

An meinem freien Sonntag im November besuchte ich auf Einladung einer Bekannten eine Freikirche. Ich nähere mich der Adresse in Berlin-Moabit, fünf Minuten vor Beginn um 10.30 Uhr. Von einer Kirche weit und breit keine Spur. Vor einem Hauseingang stehen ein paar junge Menschen und unterhalten sich. Sie sind gut gelaunt. Ich schätze sie auf Anfang 30. Auf einem gelben Werbesegel auf dem Bürgersteig steht „Life Berlin“.

Statt Kirche eine Tanzschule als Räumlichkeit

Ich schließe mein Rad ab und gehe hinein. Mein Weg führt in einen Hinterhof. Im Erdgeschoss einer Tanzschule toben knapp zehn Kinder. Ich schaue hinein. Ein fröhlicher Mensch begrüßt mich. Er trägt eine Wollmütze, auf der ein Logo eingewoben ist: „Life Berlin“. Wow, nettes Merchandising. Wir stellen uns gegenseitig vor. Ich bleibe erst mal inkognito, was meinen Beruf angeht. Ein wenig neidisch bin ich schon: So viele Kinder, die parallel zum Sonntagsgottesdienst da sind und einen ausgedehnten Kindergottesdienst feiern.

„Der Gottesdienst findet eins weiter oben statt“, sagt der Mützenträger. Gut. Oben angekommen husche ich an einer kleinen Menschentraube – alle in ihren 30ern – vorbei in einen freundlichen, hellen Raum. Große Fensterfront mit Blick in den Hinterhof. Nicht die Spur eines Altars oder einer Orgel – ich vermisse an der Stelle ehrlich gesagt beides nicht. Auch kein Kreuz, keine Taufschale. In einer Ecke sehe ich Brot und kleine Kelche mit Saft. Verstehe, es gibt Abendmahl.

Ich werde schnell als Neuling ausgemacht. Es ist hier nicht möglich, unauffällig einzutreten. Eine junge Frau spricht mich an. Ob ich einen Kaffee möchte? Den darf ich ohne Probleme mit in den Gottesdienst nehmen. Das köstliche Getränk bekomme ich in einem Nebenraum, der einlädt, die Beine hochzulegen. Ein kurzes Gespräch, ich oute mich ihr gegenüber als Pfarrer und stelle meine Fragen: Warum geht sie hierher statt in die Landeskirche? Wie gelingt es, die Zielgruppe 20 bis 40 anzusprechen? Doch nun werden wir reingerufen, der Gottesdienst beginnt.

Pfarrer Viktor Weber
Pfarrer Viktor Weberprivat

Ich suche einen Platz. Auf den Stühlen liegen Umschläge. Darin steht, wie ich spenden kann. Außerdem kann ich meine Daten hinterlassen mit der Bitte darum, kontaktiert zu werden. Ein kleines Lese­zeichen für meinen persönlichen Dank und eins für Gebetsanliegen. Das mag ich. Professionell gemacht, wirkt alles sehr freundlich und unaufdringlich. Inzwischen ist meine Bekannte angekommen. Wir begrüßen uns. Es geht gleich los.

Mit Beamer, Handy und per Du

Eine Gitarristin und jemand am E-Piano begrüßen die Gemeinde freundlich und leiten das erste Lied an. Wer mag, steht beim Singen. Auch das mag ich. Wow, die Sängerin ist gut. Die Musik geht gleich ins Ohr. Könnte auch etwas aus dem Radio sein. Okay, nach dem zweiten Lied ist schon Schluss. Das kenne ich aus Freikirchen sonst anders.

Die leger gekleidete Pastorin, etwa 40 Jahre alt, betritt die Bühne, die aus einem mobilen, faltbaren Podest besteht. Rund eine halbe Stunde spricht sie. Hut ab, eine insgesamt gute Predigt. Es fällt mir leicht, ihr zuzuhören. Wie macht sie das nur? Eine moderne, lockere Sprache, immer wieder der Einsatz des Beamers, der die wichtigsten Thesen und konkrete Fragen an die Wand wirft. Gemeindeglieder zücken ihr Handy und fotografieren die Fragen ab. Immer wieder fühle ich mich durch das „Du“ der Predigt angesprochen. Es ist darin etwas Drängendes, etwas Dringliches. Ich merke, es ist ernst gemeint. Große Teile der Botschaft erreichen mich.

Ich spüre viele Resonanzen. Es ist eine Themenpredigt. Ich höre von Selbstbeschränkung, Selbstzurücknahme, Entschleunigung, Mäßigung. Die Predigt werde ungemütlich, warnte die Pastorin zu Beginn mit einem leichten Augenzwinkern. Tatsächlich, denke ich. Wie sehr knalle ich meinen Tag voll. Wie wenig Pausen sehe ich für mich selbst vor. Immer optimieren, immer konsumieren, immer funktionieren. „Du gefährdest das Potenzial, das Gott für dich vorgesehen hat.“ Diesen Satz merke ich mir für meine eigenen Predigten.

Wenig Zeit, wenig Fokus und der Teufel

Es kommt sehr viel. Ich merke, dass ich mehr Zeit brauche, um die vielen Infos und Anregungen sacken zu lassen, aber die Zeit bekomme ich nicht. Schnell geht es weiter in der Argumentationskette. Dann kommt der Bibeltext. Galater 5,16ff. Die Früchte des Fleisches und die Früchte des Geistes. Uff, mir fehlt die Fokussierung auf ein Thema, auf einen Begriff, auf eine Richtung. Während ich versuche mitzukommen, fallen die Begriffe, die ich insgeheim befürchtet habe: Der Teufel kommt ins Spiel und übernimmt eine erst mal nicht näher bestimmte Rolle. An Details erinnere ich mich nicht mehr, weil ich an dieser Stelle etwas rauskomme.

Natürlich, denke ich, der Teufel. Jetzt fällt mir wieder ein: Du bist in einer Frei­kirche. Gott bewahre, der Teufel ist natürlich kein Fremder in landeskirchlichen Predigten. Aber nicht wirklich als Gefährder des Seelenheils. Eher eine Figur zur ästhetischen Darstellung bestimmter Inhalte, meist pädagogischer Natur. Hier hingegen hat er Substanz. Nein, versichert mir die Stimme von vorne. Bei diesem Thema ist das Seelenheil nicht gefährdet. Es geht hier nur um die Nähe, die ich zu Jesus annehmen kann. Denn oberstes Ziel muss sein, Jesus immer ähnlicher zu werden. Gut. Das Seelenheil ist nicht gefährdet.

Moment, das bedeutet doch auf der anderen Seite, dass es eben Themen gibt, bei denen das Seelenheil gefährdet ist!? Meine Vermutung: Die Bibel gilt hier mehr oder weniger verbalinspiriert, wortwörtlich – ich versäume, dies zu erfragen. Die biblischen Geschichten werden recht plastisch vorgestellt.

Statt Wischiwaschi hier klare Handlungsanweisungen

Warum lassen sich moderne, junge Berliner*innen von solch strikter Auslegung ansprechen? Ich kann mir das nur so erklären, dass hier gute Beziehungsarbeit geleistet wird und dass Menschen nun mal ein starkes Bedürfnis nach klaren Antworten und Ansagen haben. In der Landeskirche hören sie immer nur „das kann man so sehen oder so“, sogenanntes Wischiwaschi. Ja, denke ich. Differenziert und kritisch zu denken ist halt anstrengend. Hier hingegen wird der eine, konkrete und korrekte Weg gewiesen.

Der Predigt folgt ein etwa zehnminütiges Interview mit einem Gemeindeglied zum Thema. Das größte Problem des jungen Mannes scheint seine YouTube-Sucht zu sein, wie er sagt. Er schaut gern Basketballspiele. Es folgen ein paar Infos, ein Gebet, das Abendmahl – ich bekomme erst den Saft, dann das Brot, danach etwas Musik und Gesang, der Segen, das war’s. Eineinhalb Stunden. Die Zeit verging schnell.

Expertenaustausch von Pastorin und Pfarrer

Meine Bekannte stellt mir die Pastorin vor. Sie ist erst etwas nervös ob meines Amtes. Wir führen ein schönes Gespräch. „Die Menschen haben Sehnsucht nach Gott.“ So oder so ähnlich antwortet sie mir auf meine Frage, was die jungen Menschen sonntags so früh in einen Gottesdienst zieht. Wie Sie denn versorgt sei, frage ich. Sie arbeite auf 520-Euro-Basis. Das Gehalt ihres Mannes erlaubt das. Da arbeitet jemand aus Berufung und Leidenschaft heraus. Respekt. Die Gemeinde, erst vor vier Jahren gegründet, sei Mitglied im ACK, im Arbeitskreis christlicher Kirchen. Das ist ein gutes Zeichen. Sie sucht den Kontakt zur Landeskirche, möchte gern ein „echtes“ Kirchengebäude für die eigenen Gottesdienste nutzen. Obwohl so viele leerstehen, klappt es nicht. Sie vermutet Konkurrenzdenken als Grund. Konkurrenz? Spielen wir nicht im gleichen Team? Das ist gewiss eine Frage, die unterschiedlich beantwortet wird.

Gute Ideen werden mitgenommen

Junge Leute wollen gute Beziehungen und moderne Gottesdienste. Dieser Gedanke prägt sich mir ein. Sie brauchen keine Orgel, kein Kyrie und Gloria. Sie brauchen gute Musik und etwas Deep Talk (intensive, tiefe Gespräche) zu Themen, die für sie relevant sind. Dafür sind sie offenbar bereit, untragbare Denkvoraussetzungen wie die Verbalinspiration in Kauf zu nehmen – und sehr lange Predigten. Faszinierend. Ich verabschiede mich, nehme noch ein paar Flyer mit und fahre gesegnet nach Hause. Mal sehen, ob ich für meine Gemeinde den ein oder anderen Impuls werde umsetzen können.

Unser Autor
Viktor Weber ist seit 2019 Pfarrer in der Kirchengemeinde Zu Staaken in Berlin-Spandau. In Kasachstan geboren, migrierte er 1989 mit seinen Eltern nach Deutschland. Zum Pfarramt kam er über Umwege: Nach einem BWL-Studium arbeitete er zunächst bei PricewaterhouseCoopers in Frankfurt am Main. Religiös sozialisiert wurde er in einer evangelisch-lutherischen Brüdergemeinde in Villingen im Schwarzwald. Das Theologiestudium in Heidelberg und Berlin hat seine theologische Weltanschauung auf den Kopf gestellt: Vom Fundamentalisten zum progressiven Pfarrer. Auf Instagram ist er hier zu finden.