Personalisierte Psychotherapie gegen Rückenschmerzen: „Es kann mir trotzdem gut gehen“

Fast jeder Mensch leidet im Laufe seines Lebens einmal unter Rückenschmerzen. Manche geraten in einen Teufelskreis chronischer Schmerzen. Psychologen arbeiten derzeit an einer revolutionären Therapie.

Schmerzen, die länger als 6 Monate andauern, werden als chronisch eingeordnet und haben oft psychische Mit-Ursachen
Schmerzen, die länger als 6 Monate andauern, werden als chronisch eingeordnet und haben oft psychische Mit-UrsachenimageBROKER / Oleksandr Latkun

Die Schmerzen begannen, als Nadja Homburger (Name geändert) ein Tumor am Rücken entfernt werden musste. Die frühere Leistungssportlerin erholte sich gut von der Operation. „Aber danach wurden die Rückenschmerzen richtig schlimm“, erzählt die 51-Jährige. „Ich bekam Schlafstörungen, der Schmerz zermürbte mich. Ich war auf dem besten Weg in eine Depression.“ Zwei Jahre nach der OP begann sie eine Psychotherapie.

Mediziner sprechen von chronischen Schmerzen, wenn sie länger als sechs Monate andauern. „Man geht davon aus, dass dann die akute Schmerzphase vorüber ist“, erklärt die Marburger Psychologin Jenny Riecke. Anhaltende Schmerzen hätten häufig psychische Mit-Ursachen.

In einer aktuellen Studie, die bis Oktober 2024 bundesweit an fünf Universitäten läuft, behandeln Psychologen und Psychologinnen 400 Patientinnen und Patienten mit chronischen Rückenschmerzen. Beteiligt an der „Effect-Back-Studie“ sind die Universitäten Marburg, Mainz, die Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) sowie die Universitätskliniken Essen und Heidelberg. Nadja Homburger ist eine der Teilnehmerinnen.

Die Zukunft der Psychotherapie

Die Forschenden haben die Patienten und Patientinnen in zwei Gruppen eingeteilt: Eine erhält eine kognitive Verhaltenstherapie und lernt, eine Strategie für den Umgang mit Schmerzen aufzubauen, zum Beispiel anhand von Entspannungsübungen. In der anderen Gruppe wird nach einer neuen Methode verfahren, der sogenannten Expositionstherapie, bei der Menschen mit ihrer Angst konfrontiert werden. Zu dieser Gruppe zählt Nadja Homburger. Ärzte hatten geraten, aufs Rudern zu verzichten – ihre Leidenschaft. Teil der Therapie war dann, wieder ins Ruderboot zu steigen. „Ich habe durch die Therapie gelernt: Es geht doch. Das war ergreifend für mich.“

Julia Glombiewski ist Professorin für Klinische Psychologie an der RPTU am Standort Landau und hat 2017 in Marburg bereits eine Vorgänger-Studie geleitet. Diese ergab: Beide Methoden wirken gut, die Expositionstherapie nach Therapie-Ende sogar kurzfristig noch besser.

Jetzt wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler untersuchen, welche Therapie zu welchem Patienten passt: Reagieren zum Beispiel Männer oder Frauen auf die eine Therapieform besser als auf die andere? Spielt das Alter eine Rolle? Ziel wäre eine personalisierte Psychotherapie – ähnlich wie in der Medizin ein bahnbrechender, neuer Ansatz. Glombiewski spricht von „der Zukunft der Psychotherapie“.

Julia Glombiewski, Professorin für Klinische Psychologie: „Wir Psychologen und Psychologinnen kümmern uns nicht um alle Patienten mit Rückenschmerzen, sondern um die, bei denen was schiefgegangen ist.“
Julia Glombiewski, Professorin für Klinische Psychologie: „Wir Psychologen und Psychologinnen kümmern uns nicht um alle Patienten mit Rückenschmerzen, sondern um die, bei denen was schiefgegangen ist.“epd-bild / Julia Glombiewski (privat)

Nach Einschätzung des Gießener Orthopäden Henning Stürz leidet fast jeder Mensch im Laufe seines Lebens einmal unter Rückenschmerzen. Die Gesellschaft müsse für die Versorgung von Rückenschmerzen pro Jahr rund 15 bis 20 Milliarden Euro aufbringen. Am 15. März ist der „Tag der Rückengesundheit“: Der Verein „Aktion Gesunder Rücken“ will zu einem „rückenfreundlichen Lebensstil“ ermutigen und gibt auf seiner Website jede Menge Tipps dafür.

„Die Empfehlung, sich mehr zu bewegen, ist goldrichtig“, sagt Julia Glombiewski dazu. „Eine einfache Empfehlung hilft aber nicht bei jedem.“ Es gibt Patienten, die dem ärztlichen Rat folgen und mehr joggen, aber trotzdem Schmerzen haben. Es gibt auch welche, die abspeichern: Bewegung ist nicht gut für mich, sich immer weniger bewegen und dadurch die Schmerzen verschlimmern. Die kaum noch das Haus verlassen und soziale Kontakte verlieren. Sie geraten in einen „Schmerzteufelskreis“, wie Glombiewski es nennt. „Wir Psychologen und Psychologinnen kümmern uns nicht um alle Patienten mit Rückenschmerzen, sondern um die, bei denen was schiefgegangen ist.“

Überempfindliche Alarmanlage

Nadja Homburger bekam Hinweise, wie sie trotz Schmerzen den Alltag bewältigen kann. Ihre Therapeutin erklärte die Ursache der chronischen Schmerzen. Normalerweise erfülle Schmerz eine Warn- und Schutzfunktion, sagt Jenny Riecke. Jemand erleidet einen Beinbruch, wird behandelt, die Schmerzen verschwinden. Bei chronischen Schmerzen sind bestimmte Rezeptoren im Gehirn übersensibel geworden, sie schlagen permanent Alarm, „wie eine überempfindliche Alarmanlage“.

Ursache dafür können Stress oder schlechte Erfahrungen sein, etwa wiederholte Operationen, die mit Hoffnungen verbunden waren und zu Enttäuschung und Frust führten. An der Studie nehmen Patienten und Patientinnen teil, von denen einige seit Jahrzehnten unter chronischen Rückenschmerzen leiden. Viele gelten als „austherapiert“, wie Julia Glombiewski erklärt. Etliche nähmen Schmerzmittel, manche Opiate.

Die Therapeutinnen könnten ihnen nicht versprechen, dass die Schmerzen ganz verschwänden, das sei auch nicht das Ziel. Davon müsse man sich lösen und sagen: „Es kann mir trotz Schmerzen gut gehen.“ Nadja Homburger sagt: „Der Schmerz ist noch da, aber er bestimmt nicht mehr mein Leben.“