Papst stoppte vor 25 Jahren das Ausstellen von Beratungsscheinen

Im Beratungsschein für eine straflose Abtreibung sahen konservative Kirchenvertreter eine “Lizenz zum Töten”. Mit einem Schreiben verbot Rom vor 25 Jahren deren Ausstellung und stellte die Bischöfe vor eine Zerreißprobe.

Der Streit über die Regelungen zur Abtreibung ist wieder neu entbrannt. Spätestens seitdem eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission im April ihre Empfehlungen für eine Liberalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen vorlegte, haben sich die Fronten der Gegner und Befürworter einer Reform verhärtet.

Für die katholische Kirche ist das ein Grund zur Sorge. Zumal auch sie beim Thema Abtreibung schon mehrfach vor Zerreißproben stand. Vor 25 Jahren war es der für eine straffreie Abtreibung notwendige Beratungsschein, der die Deutsche Bischofskonferenz spaltete. Schließlich kam ein Machtwort aus Rom. Am 3. Juni 1999 forderte Papst Johannes Paul II. die deutschen Bischöfe ultimativ auf, in der kirchlichen Schwangerenkonfliktberatung keine Beratungsscheine mehr auszustellen. Im Kampf für das ungeborene Leben müsse die Kirche klaren Kurs halten, mahnte er in dem Schreiben. Der gesetzlich geforderte Beratungsschein habe eine “Schlüsselfunktion für die Durchführung straffreier Abtreibungen”.

Nach geltender Gesetzgebung ist in Deutschland eine Abtreibung grundsätzlich rechtswidrig. Sie bleibt jedoch straffrei, wenn sie in den ersten zwölf Wochen vorgenommen wird und die schwangere Frau sich zuvor beraten lässt. Für konservative Vertreter in der Bischofskonferenz war dieser Schein ein Dorn im Auge. Der damalige Fuldaer Bischof Johannes Dyba bezeichnete ihn sogar als “Lizenz zum Töten”.

Er hatte schon 1993 den Ausstieg seines Bistums aus dem System der Beratungsstellen veranlasst. Er und der damalige Kölner Kardinal Joachim Meisner galten fortan zusammen mit dem Präfekten der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, als schärfste Kritiker des Beratungsscheins. Das blieb auch so, als der Schein nach der Wiedervereinigung Mitte der 90er Jahre Bestandteil eines mühsam errungenen Kompromisses in der Abtreibungsfrage blieb.

In der Folge reisten immer wieder Delegationen von Bischöfen in den Vatikan. Diejenigen, die gegen die Ausstellung des Scheins waren, hatten mit Ratzinger einen wichtigen Fürsprecher. Die andere Gruppe rund um den damaligen Vorsitzenden der Bischofskonferenz, Bischof Karl Lehmann, argumentierte, die Beratung verhindere im Jahr 5.000 bis 6.000 Abtreibungen. Denn ohne Aussicht auf einen “Schein” würden viele Frauen kirchliche Beratungsstellen gar nicht mehr aufsuchen.

Vergeblich. Nach dem Papst-Schreiben vom Juni verkündete Lehmann am 23. November 1999, dass die katholische Beratung auf Anordnung des Papstes neu geordnet werde. Schon Anfang 2000 stellten die ersten Bistümer keine Beratungsscheine mehr aus. Widerstand leistete lange der Limburger Bischof Franz Kamphaus: “Nach meinen Erfahrungen werden jetzt Lebenschancen für Kinder vergeben.” Im März 2002 beendete der Papst den Alleingang des Bischofs, beließ ihn aber im Amt.

Seitdem haben die Bistümer die Arbeit der Beratungsstellen neu geordnet und teilweise sogar ausgeweitet – ohne den Beratungsschein auszustellen. 2021 wandten sich 99.669 Ratsuchende an die katholischen Schwangerschaftsberatungsstellen, darunter sehr viele Frauen mit Migrations- oder Fluchterfahrung. Davon waren allerdings nur 531 oder 0,5 Prozent im existenziellen Schwangerschaftskonflikt.

Den Beratungsschein stellt allerdings weiterhin der Verein “Donum Vitae” aus, den prominente Katholiken 1999 gründeten. “Donum Vitae” berät Frauen innerhalb des staatlichen Systems auf der Grundlage des Beratungs- und Hilfeplans, den die Bischöfe 1999 verabschiedet hatten.

Ob der Schein bleibt, falls die Bundesregierung die Empfehlungen der Kommission aufgreift und der Bundestag eine Liberalisierung der Abtreibungsregelung beschließen sollte, ist mehr als fraglich. Zwar schätzen die Expertinnen und Experten die Arbeit der Beratungsstellen und halten Gespräch mit ungewollt Schwangeren für sinnvoll – sie sollten aber freiwillig und “scheinfrei” sein, so betonen sie. Insider aus dem politischen Berlin allerdings gehen davon aus, dass außer den Grünen und Teilen der SPD derzeit niemand die in den 90er Jahren mühsam errungene Regelung der Abtreibungsfrage wieder auflösen möchte.