Pädagoge: Von der Einschulung nicht zu viel erwarten

Ist die Einschulung tatsächlich ein so großer Schritt im Leben eines Kindes? Pädagogen warnen vor zu hohen Erwartungen – und halten den Übergang eher für einen “organisatorischen Schnitt”.

Schultüten, Geschenke, Gartenpartys: Familien zelebrieren den ersten Schultag ihres Kindes oft als völlig neuen Lebensabschnitt. Mit der Realität hat das wenig zu tun: “Schulreife ist eine veraltete Idee, die sich nicht bestätigt”, sagt Detlef Träbert, Diplompädagoge und Berater für Grundschulen in Köln. “Kinder reifen nicht wie Äpfel. Sie entwickeln sich fließend.” Er rät deshalb Eltern dazu, zur Einschulung keine plötzlichen Entwicklungssprünge ihres Kindes zu erwarten: Auch das Tempo sei unterschiedlich, sagt Träbert. “Kinder entwickeln sich nicht im Gleichschritt.”

Pädagogen sprechen deshalb heute meistens von “Schulfähigkeit” statt “Schulreife”. Die lässt sich nur schwer ermitteln. Sogenannte Schuleingangsuntersuchungen finden oft schon ein Jahr vor der geplanten Einschulung statt. Ärzte des Gesundheitsamtes und Schulärzte testen dabei in erster Linie körperliche und kognitive Fähigkeiten. Mit spielerischen Aufgaben prüfen sie die Grob- und Feinmotorik. Wie nehmen Kinder ihre Umgebung wahr? Können sie Farben und Formen unterscheiden? Die eigenen Gedanken in Worte fassen? Konzentriert bei einer Sache bleiben?

“Zur Schulfähigkeit gehören aber noch weitere Kriterien”, sagt Träbert: Motivation, ein gesundes Selbstbild, der Umgang mit anderen. Wie gehen Kinder mit Konflikten um? Fügen sie sich gut in die Gruppe ein? Wie verhalten sie sich, wenn ein anderes Kind weint? “Immer mehr Kinder haben zum Beispiel Probleme mit ihrer Frustrationstoleranz, können mit Kritik nur schwer umgehen”, sagt Träbert. “Oft haben sie in ihrem Elternhaus nicht gelernt, geduldig an etwas zu basteln und an einer Sache dranzubleiben, auch wenn nicht gleich alles klappt.”

Wie weit ein Kind in der emotionalen Entwicklung fortgeschritten ist, lässt sich aber oft erst im Schulalltag beobachten. Kitas versuchen Kinder zwar oft durch gezielte Angebote vorzubereiten. Schulen und Kitas arbeiten in Deutschland aber weitgehend getrennt voneinander. Für Kinder besteht in Deutschland außerdem keine Kitabesuchspflicht. “Die Einschulung ist in Deutschland deshalb ein organisatorischer Schnitt”, sagt Träbert. “Lehrkräfte an Grundschulen müssen in engem Austausch mit Kitas in ihrer Umgebung bleiben, um über die Entwicklung der Kinder informiert zu sein.”

Trotzdem werden Kinder nur selten als “schulunfähig” bemessen. Meistens fällt die Entscheidung für die Einschulung: “Wenn Kinder in geistiger Leistungsfähigkeit schulfähig sind, aber noch nicht zuhören können oder noch zappelig sind, kann es aber Sinn machen, noch ein Jahr zu warten”, sagt Träbert.

Auch nach der Einschulung gibt es Fördermöglichkeiten. Durch Förderunterricht können Kinder zum Beispiel an einigen Schulen ihre Sprachkompetenz trainieren. In manchen Bundesländer sind für Kinder in der Einschulungsphase die Bedingungen außerdem gelockert: In Nordrhein-Westfalen etwa haben Kinder bis zur dritten Klasse bis drei Schuljahre Zeit. Bei Bedarf dürfen sie ein Jahr wiederholen, gelten aber nicht als sitzengeblieben.

Die weitere Entwicklung von Kindern lässt sich nur schwer vorhersehen. “Aus der Kitazeit kann man nicht unbedingt auf die Zeit an der Grundschule schließen”, sagt Träbert. “Wie gut sich ein Kind dort zurechtfindet, kommt auch auf die Lehrkraft an und auf die Zusammensetzung der Klasse: Kennen sich die Kinder schon? Oder stammen sie aus unterschiedlichen Kitas?” Das Elternhaus spielt ebenfalls eine Rolle: Hat das Kind genug Ruhe und Platz zum Lernen?

Wenn sich ein Kind nach den ersten Schulwochen auffällig verhält, rät Träbert Eltern dazu, mit der Lehrkraft Kontakt aufzunehmen. “Sprechen Sie außerdem mit dem Kind und fragen: Was ärgert dich, was stört dich. Was macht dir Angst?”, so Träbert. “Manche Kinder werden von anderen gemobbt. Das kann sie verunsichern.”

Wie weit ein Kind in seiner Entwicklung fortschreitet, hängt außerdem stark von seinem Umfeld ab. “Kinder, die von ihren Familien Anregungen und Unterstützung bekommen, entwickeln sich oft schneller.” Träbert empfiehlt, viel mit dem eigenen Kind zu sprechen. “Fragen Sie konkret nach: Wie ist deine Lehrerin, hast du schon jemanden kennengelernt?”