„Padre Prigge“ aus Hannover wird in Venedig heimisch

Vor sechs Jahren zog Pastor Bernd Prigge aus Hannover nach Venedig. Dort betreut er die kleine evangelische Gemeinde. Inzwischen schlägt sein Herz italienisch – sogar beim Fußball.

Bernd Prigge ist seit 2010 Pastor in Venedig
Bernd Prigge ist seit 2010 Pastor in VenedigAnja Boromandi

Venedig. Venedig im Sommer – das ist nicht nur Hitze und Gedränge in den Gassen, sondern auch ein Massenphänomen globaler Selbstinszenierung. Es grassiert „Selfiemania“: Ich und Venedig. Die Stadt dient lediglich noch als Dekokulisse, die Bewohner werden zu Statisten. Inmitten von Massentourismus und Selbstverliebtheit macht Pfarrer Bernd Prigge Werbung für Martin Luther.
Die auf den Brücken knipsen die, die sich in den Booten filmen. Wozu Land und Leute kennenlernen, wenn man sich selbst trifft? Was die Menschen, die hinter den Fassaden leben, darüber denken? „Residenti resistenti“ – was sinngemäß „uns reicht‘s“ bedeutet. Das steht auf den Stoffbannern an einigen Balkonen. In der Lagunenstadt ist der allgegenwärtige Kollaps fühlbar. Wie um Himmels willen kann man hier überhaupt dauerhaft leben, wenn schon der kurze Gang zum Bäcker zum Nervenkrieg wird? Wie halten die wenigen verbliebenen Venezianer diesen Besucheransturm überhaupt aus?

Kleine Gemeinde

Pfarrer Bernd Prigge leitet seit sechs Jahren die älteste evangelische Kirchengemeinde Italiens, direkt im Herzen Venedigs gelegen, am Campo Santi Apostoli. Ohne gewisse „Überlebenstechniken“ und Strategien, gibt er zu, würden tägliche Erledigungen zum Spießrutenlauf. „Es gibt ja Hauptstrecken, die man zwischen 9 und 18 Uhr einfach meidet, und lieber durch verwinkelte Seitengassen geht.“
Seit 2010 ist Prigge nun schon Wahl-Venezianer. Davor war er in Brasilien und hat mit Straßenkindern gearbeitet. Und in den acht Jahren in Hannover-Oberricklingen widmete er sich auch einem sozialen Brennpunkt. Seine venezianische Gemeinde hat sich seit seiner Übernahme vor sechs Jahren von 80 auf rund 100 Mitglieder vergrößert, aber klein war die lutherische Kirche von Beginn an.
In ihren bewegten Anfängen, erzählt Prigge, wurde die evangelische Kirchenbewegung zunächst durch italienische Patrizier unterstützt. Nach Martin Luthers Thesenanschlag von 1517 und im Zuge der darauffolgenden Inquisition mussten sich die Gläubigen gut 300 Jahre heimlich im Schutz des deutschen Handelshauses treffen. Es wurde unlängst von der Firma Benetton für angeblich 50 Millionen Euro gekauft; im Oktober öffnet hier eine Luxus-Shoppingmeile.

Pfarrer Prigge sitzt im Christenrat

Im Untergrund galten für die Lutheraner strenge Auflagen. So war es verboten, bei den Gottesdiensten zu singen. In dieser Zeit schrieb Luther 1543 zwei Briefe an die venezianische Gemeinde, um ihr geistlichen Beistand zu geben. Schon alleine deshalb fühlt sich Prigge dem Reformator sehr verbunden. „Im kommenden Jahr feiern wir ja 500 Jahre Reformation, da wird es viele Feierlichkeiten dazu in unserer Gemeinde geben“, verspricht der 46-Jährige. Immer wieder wird er als Luther-Experte zu Vorträgen in Schulen und bei Organisationen eingeladen. „Unsere Gemeinde ist quasi eine Art Aushängeschild geworden. Wir halten die lutherische Flagge in der Diaspora hoch.“
Das Miteinander zwischen den verschiedenen Konfessionen und Religionen, versichert Prigge, funktioniere sehr gut. „Viele meiner Kollegen treffe ich einmal monatlich im Christenrat, den es schon fast 30 Jahre gibt und der als erster in ganz Italien gegründet wurde“, erzählt er. In diesem Gremium sitzen neben ihm Vertreter der katholischen, griechisch- sowie russisch-orthodoxen Kirche und Adventisten. Jubiläen werden meist ökumenisch gefeiert; in jedem Januar findet die Weltgebetswoche statt, in der sich die Christen gegenseitig in den Gottesdiensten besuchen und Prediger austauschen.
Inzwischen, so Prigge, gibt es auch Bestrebungen für einen interreligiösen Tisch, in dem auch Muslime in den Dialog miteinbezogen werden sollen. Neben dem guten Kontakt zum Rabbi der jüdischen Gemeinde pflege er auch ein gutes Verhältnis zum Imam. So war er zusammen mit ihm und den Vertretern der anderen Religionen auf dem Markusplatz beim Staatsbegräbnis für die 28-jährige Venezianerin Valeria Solesin, die bei den Terroranschlägen von Paris im Bataclan ums Leben gekommen war. Gondoliere brachten ihren Sarg in einem feierlichen Akt auf dem Canale Grande zur Trauerfeier.

Ein Stück Heimat

Eine typisch deutsche Auslandsgemeinde sei St. Apostoli nicht, betont Prigge. Aber natürlich bleibe seine Kirche stets ein Stück Heimat, und schon alleine durch die Arbeit fühle man sich immer eng mit Deutschland verbunden. Die Gottesdienste werden von deutschen und italienischen Pfarrern gehalten – auf Deutsch und / oder Italienisch – je nachdem, wer sie besucht. Die Kirchenmitglieder sind oft Exildeutsche, die der Liebe wegen hierher gekommen sind. Aber auch deutsche Rentnerpaare, die hier ihren Ruhestand verbringen möchten. „Die Senioren hier sind körperlich sehr fit“, erklärt Prigge lachend, „man sagt, weil es hier so viele Brücken und keine Aufzüge gibt. Das schützt vor Herz-Kreislauf-Krankheiten“.
Dafür plagen die Menschen andere Sorgen. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und dramatischen wirtschaftlichen Lage nahmen sich bereits viele Menschen das Leben, berichtet Prigge. Für den Pfarrer Grund genug, zu handeln. „Wir haben uns als Gemeinde dafür engagiert, fünf Italiener zu einem sozialen Jahr nach Deutschland zu vermitteln. Inklusive Deutschkurs. Mit Erfolg. Alle fünf haben eine neue Perspektive gefunden“, sagt Prigge nicht ohne Stolz.

Tourismus – Fluch und Segen zugleich

Den Tourismus in Venedig sieht der Geistliche als Segen und Fluch zugleich. „Man könnte ja meinen, angesichts von 24 Millionen Besuchern jährlich sei Venedig eine reiche Stadt. Doch das Gegenteil ist der Fall. Sie ist bitterarm. Die Arbeitslosigkeit ist groß, die Ladenmieten hoch und einheimische Geschäfte werden oftmals von Chinesen aufgekauft. Gerade die Tagestouristen fallen an manchen Tagen wie Heuschrecken über die Stadt ein, lassen aber außer Müll nicht viel da.“
Wie kostspielig Venedig ist, merken auch die Touristen schnell. Wo auf der Welt zahlt man im Café schon alleine sechs Euro Gebühren nur für die Live-Musik, wenn man sich einen Latte Macchiato bestellt? Ein Urlaub in Venedig geht ins Geld. Pfarrer Prigge erhält daher täglich Anfragen für Übernachtungsmöglichkeiten, die er leider nicht erfüllen kann. Nur in Ausnahmesituationen. „Aktuell hatten wir gerade einen Studenten, der ein zugesagtes Zimmer nicht erhielt und unbürokratisch vorübergehend Unterschlupf bei einem unserer Kirchenmitglieder gefunden hat.“
Obwohl Italien ein zentraler Anlaufpunkt für viele Flüchtlinge ist, die sich in ihren Booten auf die gefährliche Fahrt über das Mittelmeer wagen, bleiben sie in der von der konservativen Lega Nord regierten Region eher die Ausnahme und werden nicht mit offenen Armen empfangen, wie Prigge vor zwei Jahren selbst feststellen musste. „Wir haben damals Arnoud Touvoli, der von der Elfenbeinküste stammt, drei Monate lang Asyl in unserer Sakristei gewährt. Fast ein Jahr lang haben wir seine Unterkunft finanziert und monatelang rumtelefoniert, bis die staatlichen Systeme endlich griffen.“ Die ersten Tage hatte Prigge den Ivorer bei sich zu Hause aufgenommen.

Sein Herz schlägt für die italienische Nationalmannschaft

Inzwischen hat sich Arnoud Touvoli gut integriert und arbeitet auf einem Vaporetto als Fahrkartenschaffner. Und eine italienische Freundin hat er auch. „Also eine Geschichte mit Happy End“, sagt Prigge sichtlich zufrieden. Alle weiteren Anfragen und Bitten aus Deutschland, in denen er abgeschobene Flüchtlinge, die aufgrund des Dubliner Abkommens nach Italien zurück müssen, aufnehmen soll, muss er jedoch ablehnen. „Das können wir leider nicht leisten.“
Inzwischen ist Pfarrer Prigge ein echter „Padre“. Nicht nur, weil beim Fußball sein Herz für die squadra azzurra, die italienische Nationalmannschaft, schlägt und er gut italienisch spricht. Nach eigenen Worten kocht er leidenschaftlich gern Risotto und hat sogar einen Ruderkurs im Stil der Gondoliere, also stehend, erfolgreich absolviert.

Ruhe gibt’s nur ganz früh morgens

Wirklich ruhige Momente in Venedigs Innenstadt sind auch für den „Padre“ die Ausnahme. Wer den Markusplatz und seine Uferpromenade mal menschenleer erleben möchte, muss sich morgens um 5 Uhr aus dem Bett bemühen, nur dann ist man tatsächlich fast alleine. Prigge fährt deshalb zum Luft holen auf die von Napoleon gegründete Friedhofinsel St. Michele, die nur einen Vaparetto-Stop von der Stadt entfernt liegt. Oder zum Schwimmen an den Lidostrand. Und er verrät einen weiteren seiner Lieblingsplätze. „Das Kloster San Francesco della Vigna in Stadtteil Castello, in dem einige Mönche leben, ist wunderschön ruhig gelegen“. Zum Schluss gibt er noch den Tipp, wie man eine Gondelfahrt doch in Ruhe genießen kann: indem man einfach nachts fährt.
Von deutschen Gästen wird Prigge übrigens immer wieder auf die berühmten Brunetti-Krimis von Donna Leon angesprochen, deren Bücher die Venezianer nicht kennen, weil sie dort nicht verkauft werden dürfen. Angeblich aus Angst, mit den Mordfällen das Image der Stadt zu ruinieren. Er hat die Autorin schon persönlich kennengelernt. Donna Leon war am Tag der offenen Tür spontan in seiner Kirche vorbeigekommen. Vielleicht ja auf der Suche nach einem neuen Drehort für den nächsten Brunetti-Roman? „Padre“ Prigge hätte nichts dagegen.