Ordnungscoachin: Wir leben in einem kompletten Übermaß

Was andere nur ungern tun, ist ihre Leidenschaft: Abigail Chappell räumt das Zuhause anderer Menschen auf. Sie regt dazu an, den eigenen Konsum stärker zu hinterfragen und weniger Dinge anzuhäufen.

Wer die Aufräum-Expertin Abigail Chappell beauftragt, braucht sich keine Sorgen darüber zu machen, was man ihr vielleicht zumutet: „Ich freue mich auf die Unordnung“, erklärt die 45-Jährige aus dem hessischen Hochheim am Main, die unter „tidy the mess“ ihr Ordnungscoaching anbietet. Chappell kommt, wenn andere hilflos im Chaos stehen. „Meine Kunden sind überfordert mit dem Thema Ordnung. Sie haben zu viele Dinge, und die wachsen ihnen über den Kopf.“

Chappell ist deswegen überzeugt, dass es den hierzulande üblichen Konsum stärker zu hinterfragen gelte. „Uns erdrücken die Dinge doch. Es ist viel zu viel, wir leben in einem kompletten Übermaß.“ Weniger und bewusster zu konsumieren, schone die Umwelt und spare darüber hinaus Geld. Je weniger ein Mensch besitze, desto weniger Zeit brauche er außerdem, um Ordnung zu schaffen. „Es gibt Kundinnen, die eine Hose zweimal haben, ohne es überhaupt noch zu wissen“, berichtet Chappell.

Der Bedarf nach Aufräumcoachings ist ihr zufolge groß: Im Schnitt ist sie im Monat bei sechs Kundenterminen. „Es kommen so viele Anfragen rein, dass ich auch locker zehn machen könnte.“ Allerdings ist so viel Aufräumen nicht mit ihrem Hauptberuf als Flugbegleiterin vereinbar. Während der Corona-Pandemie hat sich Chappell mit dem Coaching ein zweites Standbein aufgebaut. Sie sieht durchaus Ähnlichkeiten zwischen den Tätigkeiten: Auch im Flugzeug sei Ordnung wichtig, auf kleiner Fläche müsse systematisch verstaut werden. „Ich übernehmen gerne die Küchenposition, da muss man Tetris spielen“, sagt sie.

Mit ihren Kunden mistet sie gemeinsam aus, räumt auf, kategorisiert und sortiert. Chappell zeigt bestimmte Falttechniken für Kleidung oder bringt Ideen für eine gut sortierte Schmuckaufbewahrung mit. Sie räumt Keller auf und fragt: Brauchst du wirklich drei Christbaumständer und fünf Luftmatratzen? „Der Kunde entscheidet selbst, was weg geht und was nicht“, betont Chappell. Auch im Kinderzimmer heiße es: regelmäßig ausmisten. Kinder entwickelten sich so schnell, dass etwa Jacken und Schuhe nach einem Winter nicht mehr passten und Spielzeug bald nicht mehr bespielt würde. Die aussortierten Sachen ließen sich verschenken oder spenden.

„Viele Menschen haben Probleme damit, sich von Dingen zu trennen. Wenn sie wissen, die Sachen werden gespendet, fällt es ihnen viel leichter“, ist Chappells Erfahrung. Kindergärten und Stadtbüchereien seien häufig dankbare Abnehmer. Auch Sozialkaufhäuser nehmen Spenden an – vom Küchenutensil bis hin zum ausrangierten Trenchcoat. Typisch sei, dass Kunden selbst alte T-Shirts behalten wollten – „für Gartenarbeit oder mal zum streichen“. Manches seien einmal Geschenke gewesen, anderes wiederum so teuer gewesen, dass sich Kunden nicht trennen wollten.

„Dabei ist das Geld mit dem damaligen Kauf weggegangen, nicht mit dem Aussortieren“, erklärt Chappell. Während des Coachings stellt sie viele Fragen: Wann wurde das Teil zuletzt benutzt? Würdest du es dir noch einmal kaufen? Kannst du es dir auch ausleihen? Dadurch soll ein Bewusstsein dafür entstehen, welchen Wert ein Gegenstand für einen selbst hat. „In Deutschland besitzt im Schnitt jeder Mensch rund 10.000 Dinge“, sagt Chappell. Allein von der eigenen Kleidung ziehe man aber nur rund ein Fünftel wirklich an. „Der Rest nimmt Platz weg, kostet Geld und braucht Pflege.“

Die Hessin bezeichnet sich selbst nicht als Minimalistin; sie kaufe immer noch gerne schöne Dinge. „Aber ich renne nicht mehr zu jedem Sale“, sagt Chappell. Früher habe sie sich von Reisen gerne eine Erinnerung mitgebracht – das lasse sie inzwischen. „Ich vermeide Spontankäufe, achte auf hochwertige Qualität und schaue, was ich wirklich brauche“, sagt die Expertin.

Ihren Kunden versucht sie, diese Einstellung ebenfalls mitzugeben. Alles soll in einem Zuhause seinen festen Platz haben; außerdem helfen laut Chappell Routinen, um Ordnung zu halten. Etwa abends die Küche zu machen, um aufgeräumt in den neuen Tag zu starten; oder nach dem Zähneputzen das Waschbecken durchzuwischen. „Das sind Dinge, die das Leben einfacher machen und morgens und abends höchstens eine Viertelstunde dauern“, sagt Chappell. Sie ist sich sicher: „Damit bleibt das große Chaos aus.“