“Ode an die Menschlichkeit” – Arte-Doku über Beethovens Neunte

Eigentlich wollte Larry Weinstein eine Doku über die Ideale aus Beethovens neunter Sinfonie drehen, 200 Jahre nach ihrer Uraufführung. Doch dann kam der Gaza-Krieg. Und der Filmemacher wurde Teil seiner eigenen Geschichte.

Am 7. Oktober 2023 macht Judih Weinstein mit ihrem Mann einen Spaziergang in der Nähe ihres Kibbuz in Südisrael, als sie plötzlich von Raketendonner und Gewehrsalven umgeben sind. “Schickt bitte Hilfe, Gadi ist schwer verletzt, und ich wurde auch getroffen”, so die letzte Nachricht an ihre Freunde. Dann verliert sich die Spur der beiden.

Die Geschichte von Judih Weinstein (70) und ihrem Mann Gadi Haggai (73) ist der rote Faden in der Arte-Doku “Beethovens 9 – Ode an die Menschlichkeit” – völlig ungeplant, wie Judihs Bruder, der kanadische Filmemacher Larry Weinstein (67), beim Preview am Freitagabend im Bonner Beethoven-Haus verriet. Ausgangspunkt für den Film, der am Sonntag (5. Mai) um 22.45 Uhr auf Arte sowie in der Mediathek zu sehen ist, war der 200. Jahrestag der Uraufführung der Neunten Sinfonie von Ludwig van Beethoven am 7. Mai 1824; ein kompositorischer Meilenstein und ein Plädoyer für Freiheit, Liebe, Gleichheit, Frieden, Hoffnung und Geschwisterlichkeit, dessen Schlusssatz mit der Vertonung von Schillers “Ode an die Freude” Volksliedcharakter hat.

In seinem Film geht Weinstein der Frage nach, was die Menschen in den vergangenen 200 Jahren von den Idealen der Aufklärung umgesetzt haben, denen schon der junge Beethoven (1770-1827) in seiner Bonner Zeit anhing. Angesichts von Kriegen, Populismus, Umweltzerstörung und vielfältigen Bedrohungen kann die Bestandsaufnahme nur ernüchternd ausfallen. Doch Weinsteins Doku vermittelt trotz allem Hoffnung, immer wieder gespiegelt in Beethovens Musik.

Für seinen Film porträtiert er neun Menschen, die auf unterschiedliche Weise mit der Sinfonie verbunden sind. Nicht zufällig hat der Titel “Beethovens Nine” Anklänge an den ikonischen Film “Ocean’s Eleven”. Als Beethoven 1821 mit der Neunten begann, war er einsam, krank und isoliert, und – eine Tragödie gerade für einen Musiker – längst taub. “Beethoven galt als Misanthrop – aber in der Neunten umarmt er die ganze Welt”, schwärmte Weinstein.

Der Filmemacher begleitet die Proben des Ukrainian Freedom Orchestra, bei denen Musiker die Neunte einstudieren, die vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine geflohen sind. Der Clou: Dirigentin Keri-Lynn Wilson lässt in der ukrainischen Version von Schillers Ode das Wort Freude durch “Slava”, “Ruhm”, ersetzen.

Wie kaum eine andere Person kann die US-amerikanische Komponistin und Pianistin Gabriela Lena Frank Beethovens Schicksal nachempfinden und vermitteln: Sie wurde taub geboren, kann aber dank Hörgeräten ihrer Kunst nachgehen. “Peanuts”-Vater und Zeichner Charles M. Schulz hat mit seinen geradezu philosophischen Comic-Strips Beethoven populär gemacht, wie auch der Film illustriert. Ein Peanuts-Beispiel: “Ich frage mich, was der Sinn des Lebens ist”, sinniert Lucy. Darauf Klavier-Enthusiast Schröder: “BEETHOVEN!”

In Polen trifft Weinstein die junge Popikone Monika Brodka, in Berlin besucht er den Ort der berühmten Aufführung der Neunten, bei der US-Stardirigent Leonard Bernstein nach dem Mauerfall das Wort “Freude” durch “Freiheit” ersetzte. Doch im Dezember 2023 erhält Weinstein aus Israel die Nachricht, dass seine Schwester und sein Schwager tot sind, erschossen am 7. Oktober beim Massaker der radikalislamischen Hamas. Sein Team ermutigt ihn, selbst vor die Kamera zu treten – zum allerersten Mal.

So erfährt man von seinen inneren Kämpfen, lernt seine Tochter und seine betagte Mutter kennen. Auf dem Klavier in ihrer Wohnung stehen viele Familienfotos mit Judih. Sie war die einzige in der Familie, die das Instrument beherrschte.

Nach der Vorführung des sehr persönlichen Films gab es langen Beifall und stehende Ovationen. Die Frage von Beethoven-Haus-Chef Malte Boecker, ob Weinstein Hass gegen die Hamas und die Palästinenser empfinde, verneinte er. “Wir müssen Mitgefühl zeigen für alle Menschen, die unterdrückt werden.” Auch seine Schwester Judih habe so gedacht und gehandelt: Ihr Kibbuz Nir Oz liege nur zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt; den Palästinensern dort habe sie sich genauso verbunden gefühlt wie ihren eigenen Landsleuten. Die Menschlichkeit müsse siegen, sonst hörten Hass und Krieg niemals auf, so Larry Weinstein. Beethoven hätte ihm aus vollem Herzen zugestimmt.