Mit Fantasie gegen den Verlustschmerz: Der neue Roman von Olivia Monti erzählt von Gier und Glück, Glaube und dem Griff nach den Sternen. Diese Mischung überrascht mit Leichtigkeit – und hallt zugleich nach.
Es könnte ein altes Buch sein: eines von denen, das seine Figuren ernst nimmt. Das seinen Sog nicht durch überzogene Actionszenen oder kitschige Effekte entfaltet, sondern vielmehr dadurch, dass man als Leserin oder Leser gern in diese Fiktion zurückkehrt. Es ist heiter, hallt aber nach; die Spannung erinnert an einen Krimi, doch wer mag, kann über tiefergehende Fragen nachdenken oder den Spuren zu anderen Werken folgen, die hier und da gelegt werden. Kurz: “Die Toten von nebenan” von Olivia Monti ist eine wunderbare Herbstlektüre.
Die zentrale Frage des Romans ist freilich eine sehr alte: Was – wenn überhaupt – kommt nach dem Tod? Dass da etwas kommt, stellt sich auf den allerersten Seiten heraus. Was es jedoch ist, damit hat Nadja Löffler nicht gerechnet, und vermutlich auch das Lesepublikum nicht: Sie findet sich in ihrem alten Zuhause wieder, begegnet ihrer toten Großmutter, später auch anderen früheren Nachbarn. Die Verstorbenen leben in ihren Häusern und Wohnungen weiter – und wie im Diesseits dauert es nicht lange, bis Zwistigkeiten aufkommen.
Denn Herr Tober – die einzige Figur, deren Vornamen man nie erfahren wird – will die anderen verführen. “Obwohl sie das Materielle schon hinter sich gelassen hatten, verfallen sie der Idee, die Lebenden aus ihrem Viertel zu vertreiben”, erklärt Olivia Monti im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA). “Das Haften am Materiellen erweist sich aber als sehr gefährlich.” Ein Zufall ist es laut der Autorin nicht, dass unter anderen eine syrische Familie vertrieben werden soll: “Darin steckt auch Gesellschaftskritik.”
Denn die Verstorbenen sind ansonsten Menschen wie Du und Ich – mit nachvollziehbaren Macken: Hiltrud Enger nimmt ihren erwachsenen Kinder übel, dass sie nach dem Tod der Eltern kaum noch an sie denken; das Ehepaar Sauer legt großen Wert auf die eigene Belesenheit; Dr. Markus Krepp strebt auch nach dem Tod nach Wissen. Er wolle “endlich erfahren, ‘was die Welt im Innersten zusammenhält'”, sagt Monti: “Er erinnert an die Figur des Faust – und das Faustische passt wunderbar in das heutige Technologie-Zeitalter. Man strebt zu den Sternen, aber im materiellen Sinn, nicht im metaphysischen.”
Nadja Löffler ist eine Art Identifikationsfigur: Mit ihr erkundet man lesend dieses Jenseits voller Nachbarn, mit ihr möchte man den Henne-Schwestern aus dem Weg gehen, die offenkundige Sympathien für die finstersten Kapitel der deutschen Geschichte hegen. Frau Löfflers anfängliche Faszination und spätere Abscheu gegenüber Herrn Tober macht diese Figur ebenso nahbar wie die Sorge um ihre Mutter, die noch lebt und rund um die Uhr gepflegt werden muss.
Monti, die vor allem für Krimis bekannt ist, hat das Buch geschrieben, während sie ihre eigene pflegebedürftige Mutter begleitet hat. “Die letzten zwei Jahre vor ihrem Tod bin ich praktisch wieder bei ihr eingezogen, damit sie gut betreut ist. Wir hatten eine sehr enge Beziehung – ich dachte, ich schaffe das nicht, wenn sie stirbt.” Das Schreiben sei für sie ein Trost gewesen, eine Möglichkeit, sich auf den nahenden Abschied vorzubereiten.
Im Nachhinein spricht die Schriftstellerin von einer besonderen Zeit: “Die besten Momente meines Lebens waren die, in denen ich mich um jemanden gekümmert habe, zum Beispiel meine Mutter dabei unterstützt habe, so ruhig und schmerzfrei wie möglich auf den Tod zuzugehen.”
Diese ernsthaften Themen leicht zu verpacken, sieht Monti durchaus als Aufgabe von Literatur – und hat nach eigenen Worten “wahnsinnig darauf geachtet, dass es sich flüssig liest. Dann beschäftigen sich Leserinnen und Leser mit diesem etwas schwierigen, auch unheimlichen Thema, ohne es recht zu merken, weil sie auf die Handlung achten – aber es sickert doch etwas ein.” Vielleicht, sich im Leben ein bisschen weniger auf Äußerlichkeiten zu konzentrieren – und mehr darauf, was Nadja Löffler und Olivia Monti als “das Wesentliche” bezeichnen: “den Erwerb von Wissen, den Genuss von Schönheit, die Liebe.”