Neuer Beauftragter für SED-Aufarbeitung fordert mehr Großzügigkeit

Seit Anfang April ist Johannes Beleites neuer Beauftragter des Landes Sachsen-Anhalt für die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der 57-jährige Jurist war Ende der 1980er Jahre in der DDR-Bürgerrechtsbewegung aktiv und hat eigene Erfahrungen mit dem SED-Regime gemacht.

epd: Herr Beleites, in diesem Jahr feiern wir 35 Jahre Mauerfall. Wie haben Sie persönlich diese Tage erlebt?

Johannes Beleites: Am 9. November hörte ich abends in Leipzig die Pressekonferenz mit Günter Schabowski. Da sagte ich zu einem Freund: „Wenn es stimmt, was Schabowski gerade gesagt hat, dann wird sich für uns die Welt grundlegend ändern.“ Am nächsten Tag wollte ich mit einem kleinen privaten Hilfstransport nach Rumänien fahren, um dort Freunden vorm Winter etwas zu essen zu bringen. Meine Gedanken gingen nach Osten und nicht nach Westen. Viel Zeit zum Nachdenken darüber hatte ich eine Woche später. Da hatte mich in Rumänien die Securitate unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet, weil ich sehr viel fotografiert hatte. „Länger als zehn Jahre wird es nicht dauern“, hieß es. Tatsächlich kamen wir nach neun Tagen wieder frei. Erst im Dezember fuhr ich erstmals nach West-Berlin. Der wichtigere Tag ist für mich aber der 9. Oktober 1989. Alle hatten eine gewaltsame Lösung befürchtet. Aber dann hörte ich die Erklärung „Keine Gewalt“ von Kurt Masur und lokalen SED-Größen, dass man den Dialog suchen müsse. Als gleichzeitig der ganze Innenstadtring voller Menschen war, wusste ich: „Wir haben es geschafft.“

epd: Als Sie 15 waren, sind Sie erstmals mit der Stasi in Konflikt gekommen, später durften Sie zunächst kein Abitur machen. In den vergangenen Jahren gab es Diskussionen darüber, ob die DDR ein Unrechtsstaat war. Haben Sie je Zweifel daran gehabt?

Beleites: Ich bin Jurist, daher ist die Frage nicht ganz einfach zu beantworten. Für mich war die DDR nie ein Rechtsstaat, weil wir keine Grundrechte hatten, die irgendwie einklagbar waren. Die Justiz folgte den Weisungen der Partei und war somit nicht unabhängig. Es ist sehr viel staatliches Unrecht in der DDR geschehen, sodass man sie natürlich als Unrechtsstaat bezeichnen muss. Es gibt aber nochmals eine Abstufung zum Nationalsozialismus. Das war eine ungleich schlimmere Form des Unrechtsstaates.

epd: Sie sind selbst Betroffener des SED-Unrechts. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?

Beleites: Insofern, als ich viele Menschen, die hier Beratung suchen, grundsätzlich erstmal verstehen kann. Manches von dem, was sie mir schildern, habe ich auch selbst erlebt. Es ist ein grundsätzlicher Vorteil, dass ich auf die Betroffenen authentisch zugehen kann. Mir wird gespiegelt, dass das die Leute auch merken.

epd: Wofür brauchen wir dieses Amt noch 35 Jahre nach dem Mauerfall?

Beleites: Wir brauchen das Amt so lange, wie es Betroffene gibt, die Hilfe suchen. Derzeit werden beispielsweise die SED-Unrechtsbereinigungsgesetze überarbeitet. In Sachsen-Anhalt wurden seit 2015 von 105 Anträgen auf Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden der Haft in DDR-Gefängnissen ganze drei positiv beschieden. Wir setzen uns hier für eine Beweislastumkehr ein. Es wäre sachgerechter, bei Haftopfern der SED-Diktatur mit bestimmten gesundheitlichen Beeinträchtigungen grundsätzlich einen ursächlichen Zusammenhang zu vermuten, solange nicht das Gegenteil nachgewiesen wird. Hier sollte sich die Bundesrepublik großzügig zeigen, haben diese Menschen doch mit dafür gesorgt, dass die SED-Diktatur letztlich besiegt werden konnte.

epd: Welche thematischen Schwerpunkte wollen Sie in den nächsten fünf Jahren setzen?

Beleites: Zunächst geht es darum, die gute Arbeit der vergangenen Jahre fortzusetzen. Die Herausforderung wird sein, den Generationswechsel zu unterstützen. Wir erleben das in allen Einrichtungen, die sich mit DDR-Geschichte beschäftigen: Die Erlebnisgeneration wird rapide kleiner. Und es geht darum, die Geschichte der Diktatur und das Wissen über die Bedeutung des SED-Unrechts an die Generation zu vermitteln, die es nicht selbst erlebt hat.

epd: Sie sind Sohn eines evangelischen Pfarrers, waren in der kirchlichen Friedens- und Umweltbewegung aktiv. Zur Wendezeit haben viele Menschen Schutz unter dem Dach der Kirche gesucht, heute gehören nur noch wenige Menschen in Ostdeutschland einer Kirche an. Woran liegt das aus Ihrer Sicht?

Beleites: Wir leben heute in einer anderen Gesellschaft als vor 1989, damals hatte die Kirche eine andere Bedeutung. Die Kirchen in Ostdeutschland sind mit einem großen Vertrauensvorschuss in die neue Zeit gegangen und so vielleicht etwas zu selbstzufrieden und zu träge geworden. Persönlich habe ich seit drei Jahrzehnten vor allem organisierten Rückzug der Kirche erlebt. Nötig wäre aber missionarischer Gemeindeaufbau, also Arbeit mit und für Menschen, die nicht schon zur Kirche gehören. Kirchlich sind wir in den 90er Jahren falsch abgebogen: Wir haben die westdeutsche Beamtenstruktur übernommen und können uns das unter den hiesigen Bedingungen nicht leisten. Wenn die Kirche in den nächsten 25 Jahren im Osten nicht untergeht, dann ist das fast schon ein Gottesbeweis.

epd: Heute überwiegt offenbar bei vielen Ostdeutschen ein zum Teil wohlwollendes Bild über die Verhältnisse in der DDR. Der Zusammenhalt sei größer gewesen, die soziale Versorgung besser. Ist das ein verklärter Blick auf die damaligen Verhältnisse?

Beleites: Selbstverständlich. Für viele, die jetzt so reden, war das ihre Jugendzeit. Und an die erinnern sich Ältere meist mit verklärtem Blick und vergessen oft, wie schwierig die Zeit auch persönlich war. Wenn ich zu Menschen sage, stellt Euch vor, ab morgen ist alles wieder wie vor 1989 – da habe ich noch keinen getroffen, der das wirklich wollte. Es war eine Diktatur und eine Mangelgesellschaft. Da entsteht eben ein spezifischer Zusammenhalt, den es heute so zum Glück nicht mehr braucht.

epd: Zugleich nehmen Ost-West-Debatten wieder an Fahrt auf. Unter anderem hält der Buchautor Dirk Oschmann den Osten für eine westdeutsche Erfindung. Warum haben solche Debatten auch heute noch Potenzial?

Beleites: Anfang der 1990er Jahre brauchten wir im Osten große Unterstützung, um Verwaltung, Justiz und andere Strukturen aufzubauen. Da kamen viele Menschen aus Westdeutschland in leitende Positionen. Dass sich diese Dominanz in Führungspositionen aller Bereiche aber auch jetzt, eine Generation später, noch so fortsetzt, empfinden viele Menschen mit ostdeutschen Wurzeln als ungerecht. Das ist ein Anachronismus, und viele Ostdeutsche erleben in ihren Aufstiegsvorstellungen an einer bestimmten Stelle eine Art gläserne Decke, die sie nicht durchstoßen können.

epd: Zugleich wird vor allem in stark rechten Kreisen die heutige Bundesrepublik zuweilen als „DDR 2.0“ bezeichnet. Auch heute, so heißt es, dürfe man seine Meinung nur hinter vorgehaltener Hand sagen. Ist etwas dran an solchen Vergleichen?

Beleites: Man darf alles vergleichen, aber nicht alles gleichsetzen. Es ist vollkommen absurd zu behaupten, wir hätten heute eine „DDR 2.0“. Das ignoriert und verharmlost etwa die Rolle der Stasi, die eine Geheimpolizei war. Das sind ganz große und elementare Unterschiede. Dennoch kann man Zweifel bekommen, ob die liberale und freiheitliche Gesellschaft sich wirklich so entwickelt hat, wie wir uns das erträumt haben. In Leipzig sind 1989 Jugendliche mit Plakaten „für ein offenes Land mit freien Menschen“ auf die Straße gegangen. Wir müssen als Gesellschaft miteinander ins Gespräch kommen und nicht nur unsere Vorurteile von den jeweils anderen pflegen. Als Demokraten können wir das Drittel der Wähler, das rechts wählt, weder ignorieren noch ausgrenzen. Dann wären wir allenfalls Schönwetterdemokraten. Wirkliche Demokraten müssen die Gesellschaft zusammenhalten und miteinander Lösungen finden. Hier könnten die Kirchen übrigens heute wieder eine herausragende Rolle spielen.