Für “Spiegel”-Herausgeber Augstein war er im Rückblick ein “ganz großer Häuptling”. Am 5. Januar jährt sich der 150. Geburtstag von Konrad Adenauer. Eine neue Biografie ordnet sein Leben neu ein.
Das Gerüst am Haus ist schon abgebaut. Im Garten und an der berühmten Boccia-Bahn wird noch renoviert. Wenn sich am 5. Januar der 150. Geburtstag von Konrad Adenauer (1876-1967) jährt, können Besucher seinen langjährigen Wohnsitz hoch über dem Rheintal in Rhöndorf (Bad Honnef) wieder ohne Einschränkungen besuchen. Schon im Vorfeld werden Leben und Wirken des ersten Bundeskanzlers wissenschaftlich noch einmal ausgeleuchtet. In einer neuen, schlanken Biographie “Konrad Adenauer – Kanzler nach der Katastrophe” schildert der Jenaer Zeithistoriker Norbert Frei Leben und Leistung Adenauers aus der Perspektive der Gegenwart.
Es gehe nicht darum, den oft erschöpfend umfangreichen Biographien über Adenauer eine weitere, kürzere, zur Seite zu stellen, schreibt der Historiker im Vorwort. Es gehe ihm darum, eine Reihe eingeschliffener Meinungen, Urteile und Vorurteile über den Gründungskanzler angesichts aktueller politischer Entwicklungen zu überprüfen. Manche Themen der frühen Bundesrepublik sind ja mit Wucht zurück: Russlands Bedrohung Europas, die enge Bindung an Europa und die USA oder die gegen starke Widerstände durchgesetzte Aussöhnung mit Israel.
Freis Biographie setzt ein mit dem energiegeladenen jungen Kölner Oberbürgermeister, der seine Geburtsstadt nach dem Ersten Weltkrieg zur modernen “Metropole der Rheinlande” entwickelte. In der Weimarer Republik gehörte er schon bald zur Führungsreserve der katholischen Zentrumspartei und wurde mehrfach als möglicher Reichskanzler gehandelt.
“Adenauer stand für eine sozialkonservative, technische Moderne – ganz im Einklang mit seinem traditionellen katholischen Glauben, seinem optimierungsfreudigen Erfindergeist und seinem ausgeprägt besitzbürgerlichen Erwerbssinn”, schreibt der emeritierte Professor der Uni Jena. Dass der Oberbürgermeister im Frühjahr 1933 von den Nationalsozialisten aus dem Amt gejagt und während der Nazi-Herrschaft fortwährend drangsaliert wurde, wurde zur prägenden Erfahrung. Zum autoritär-patriarchalischen Führungsstil, der seinem Charakter entsprach, kam seitdem auch ein tiefes Misstrauen gegenüber dem politischen Urteilsvermögen seiner Landsleute.
Eine noch immer eher unterbelichtete Dimension im Leben Adenauers ist laut Frei die Verfolgung durch das NS-Regime, die sich spätestens 1944, nach dem Suizidversuch seiner zweiten Frau Gussi in Gestapo-Haft, tief in seine Persönlichkeit eingebrannt habe. Um so erstaunlicher, dass er diese Opfererfahrung in den Jahren seiner Kanzlerschaft öffentlich kaum je zur Sprache brachte. Während Adenauer in seiner privaten Korrespondenz noch Anfang 1946 ungeschönt und unversöhnt über die Schuld und das politische Versagen der Deutschen und besonders seiner Kirche gesprochen habe, habe er sich auf der öffentlichen Bühne “einem therapeutischen Beschweigen der Vergangenheit” verschrieben, schreibt Frei.
Der Grund dafür: Adenauer sei es um die politische und sozialpsychische Konsolidierung der Gesellschaft nach der Katastrophe gegangen. Ihn habe die Einsicht geleitet, dass der Neuaufbau letztlich mit den Menschen erfolgen müsse, die da sind. “Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat”, lautete dazu seine verstörende Lebensweisheit.
Politisch habe der Kanzler einer ganzen Epoche seinen Stempel aufgedrückt, schreibt Frei. Bis 1955, als Adenauer in Moskau die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Sowjetunion verhandelte, habe er seine Maxime “Freiheit vor Einheit” fest etabliert. “Seine nicht anders als revolutionär zu nennenden Kernziele für die Bundesrepublik waren erreicht”: unbedingte Westbindung, Integration in das westeuropäisch-transatlantische Bündnissystem, dazu eine “auf kalte Koexistenz zielende Ostpolitik frei von jedem Schaukelverdacht”.
Kein Blatt vor den Mund nimmt der Biograf bei der Beschreibung der Persönlichkeit des CDU-Politikers. Adenauer sei stolz und stur und selbstbewusst gewesen, doch ohne eine Spur von Eitelkeit. Er habe sich fordernd und anspruchsvoll und rechthaberisch gezeigt, aber selten selbstgefällig. “Im Umgang mit Menschen, sogar in seiner nächsten Umgebung, konnte er kalt und hart und rücksichtslos sein, aber auch charmant und fürsorglich.” Wie skrupellos er sein konnte, zeigte sich laut Frei auch im Umgang mit seinen politischen Gegnern: in seinen mit heute undenkbarer Härte geführten Wahlkämpfen gegen die Sozialdemokraten – und in deren von ihm geduldeter jahrelangen illegalen Ausspionierung.
Als der Patriarch das Kanzleramt im Oktober 1963 verließ – mit fast 88 Jahren, nach 14 Jahren im Amt -, ging er “nicht mit frohem und leichtem Herzen”. Politisch hatte ihn der Instinkt zuletzt häufiger verlassen: das “ZDF-Fernsehurteil” aus Karlsruhe, sein kurzzeitiger Anspruch auf das Amt des Bundespräsidenten, die beim Mauerbau sichtbar werdende Perspektivlosigkeit seiner Wiedervereinigungspolitik, die “Spiegel”-Affäre. Gerade der junge US-Präsident John F. Kennedy ließ Adenauer für die Westdeutschen plötzlich unendlich alt aussehen.