Nach dem Ostsee-Hochwasser – Verhältnis zum Strand im Wandel

Erholung, endlose Weite und erfrischende Brandung: Fast jeder Mensch liebt Strand und Meer. Doch nicht erst das jüngste Hochwasser an der Ostsee sehen Fachleute als Weckruf, dieses Verhältnis neu zu justieren.

Es war ein Jahrhunderthochwasser, das Ende Oktober für Schäden in dreifacher Millionenhöhe sorgte. In Schleswig-Holstein und im Süden Dänemarks wurden ganze Landstriche evakuiert, Häuser und Uferpromenaden zerstört. Etwa in der kleinsten Stadt Deutschlands, Arnis, kämpft man immer noch gegen die Folgen der Sturmflut. Dass solche Extremwetterlagen künftig häufiger vorkommen werden, darüber sind sich Klima-Fachleute einig. „Den Küsten wird stärker zugesetzt werden“, sagt der Meereskundler Karsten Reise.

Zusammen mit der Journalistin Hella Kemper hat er kürzlich das Buch „Strand“ veröffentlicht, ein – optisch wie inhaltlich – zauberhafter kleiner Band. Der Strand, schreibt das Duo, sei eine „Projektionsfläche für Kummer, Klagen und Krisen aller Art“, ein „Erinnerungsraum“ und ein „Ort der Hoffnung“; die menschliche Seele lasse sich dort „vielleicht besser begreifen als anderswo“.

Es macht Menschen traurig, wenn solche Orte zerstört werden – diejenigen, die dort leben oder arbeiten. Wer Förster oder Landwirt ist, kann nach Worten der Psychologin Lea Dohm besonders von sogenannter Solastalgie betroffen sein: dem Schmerz über den Verlust von Naturräumen, Pflanzen und Tieren. Der australische Umweltwissenschaftler Glenn Albrecht prägte diesen Begriff, der sich aus dem lateinischen solacium (Trost) und dem griechischen algia (Schmerz, Leiden) zusammensetzt und sich mit „Leiden an Trostlosigkeit“ übersetzen lässt.

Auch könne „die Rückkehr an Plätze unserer Kindheit oder einen alten Urlaubsort Gefühle von Kummer oder Traurigkeit in uns auslösen: Wenn wir diese Orte über eine etwas längere Zeit nicht mehr gesehen haben, fallen uns die Veränderungen und Zerstörungen besonders auf“, erklärt Dohm. Nach dem Ostsee-Hochwasser war die Hilfsbereitschaft dementsprechend groß, Kommunen richteten eigens Plattformen oder Spendenkonten dafür ein.

Der Strand gebe dem Menschen ein Gefühl von Freiheit, erklärt Biologe Reise. Der sehnsüchtige Blick auf die Weiten des Horizonts, Heim- und Fernweh zugleich: „Ist das Geheimnis des Strandes, dass er kein Geheimnis hat?“, fragen Kemper und Reise poetisch-philosophisch.

Der Blick des Wissenschaftlers bleibt zugleich analytisch. Wo Uferlinien zu starr befestigt wurden, etwa mit Beton, geht der Strand verloren: „Wenn die Wellen auf harten Widerstand treffen, verlieren sie kaum Kraft und nehmen nach dem Aufprall alles mit, was an weichem Material vor Deckwerken und Ufermauern liegt“, erklärt er. Sprich: den Sand, „und ohne Sand ist der Strand für uns kein Strand mehr“.

Vielerorts ist man daher zu künstlichen Sandaufspülungen übergegangen, ein „Puffer gegen künftige Sturmfluten“, der allerdings immer wieder erneuert werden muss. Im Küstenschutz tut sich viel – und das sei auch nötig, betont Reise. Allein schon deshalb, weil Küstenregionen zunehmend zu Ballungsräumen werden. Hotelanlagen werden mitunter schon rück- und weiter im Binnenland neu aufgebaut. Allerdings sei dies nicht überall möglich, sagt Reise. Und: „Statistisch befindet sich am Sylter Strand alle zwei Meter ein Strandkorb. Anderswo sind es mindestens Handtücher, Sonnenschirme und Strandliegen.“

Neu entstehen kleine, mit gespanntem Tau abgegrenzte Schutzräume. Dort kann Strandgras wachsen, der Regenpfeifer brüten – und der Mensch staunend beobachten, wie sich die Natur entwickelt, wenn man sie lässt. „Es verbessert unser Strandgefühl, wenn wir sehen, dass nicht nur wir am Strand glücklich sind, sondern auch andere Lebewesen“, meint Reise.

Müll sammeln am Strand oder Ehrenamtliche, die ölverschmierte Vögel säubern – wie jüngst an der schwedischen Küste, wo eine Fähre auf Grund gelaufen war: Aus Sicht des Experten sind das Hoffnungszeichen. „Wir brauchen dieses Engagement, wir können die Verantwortung nicht nur auf staatliche Institutionen schieben“, mahnt er.

Es gelte, das Verhältnis zu Strand und Meer neu auszurichten. Reise erinnert daran, dass Meer und Wind einst Strand und Dünen schufen. „Wir meinen, das gehört uns, aber das ist ein Irrtum. Wir können diese Bereiche genießen, aber sie sind nur vom Meer geliehen.“