Am Israelsonntag erinnern wir Christinnen und Christen seit den 50er Jahren an den bleibenden Bund Gottes mit Israel. Doch es geht um mehr als biblische Geschichte oder die Aufarbeitung der Shoa durch die ersten beiden Nachkriegsgenerationen. Es geht um die Gegenwart. Um das Mit- einander der dritten und vierten Generation. Für mich ist dieser Sonntag ein Prüfstein. Er zeigt, wie glaubwürdig unsere Solidarität mit Jüdinnen und Juden wirklich ist. Und er stellt eine Frage: Wie leben wir heute unsere theologische Verantwortung, gerade angesichts des wachsenden Antisemitismus?
Die Begegnung mit jüdischen Vertreterinnen und Vertretern der dritten und vierten Generation in Berlin hat mir eine neue Perspektive eröffnet. Es sind längst nicht mehr nur die vertrauten Antworten und eingeübten Dialogformen der Fachleute gefragt. So wichtig diese bleiben, ich schätze besonders jene Gespräche und Gottesdienste, die Raum schaffen für die Vielfalt jüdischer und christlicher Glaubens- und Lebenswelten in unserer Stadt.
Musik als Türöffner für das Schicksal
Eine solche neue Form der Erinnerungskultur habe ich im Projekt Lebensmelodien gefunden. Es ist ein Projekt der dritten und vierten Generation – es macht Kompositionen aus der Zeit der Shoa wieder hörbar. Gemeinsam mit dem israelischen Klarinettisten Nur Ben Shalom führen wir seit sieben Jahren diese Musik auf, erzählen von den Lebensgeschichten der Komponistinnen und Komponisten, und gehen vor allem in Schulen. Inzwischen arbeiten wir mit über 300 Schulen bundesweit zusammen.

Gerade in Berlin schaffen wir mit dieser Musik Gesprächsräume – oft zwischen Menschen, die sich sonst als Gegner gegenüberstehen. Musik öffnet emotionale Zugänge. Diese Lieder erzählen von Lebenswillen, von spiritueller Tiefe, von der lebenswichtigen Kraft kultureller Erinnerung. Die Zuhörenden sind bewegt, ihre Herzen öffnen sich – und sie erkennen: Da war ein Mensch wie ich, der durch Musik angesichts des Todes seine Würde bewahrte.
Bei unserem letzten Konzert am 9. November in der Apostel-Paulus-Kirche, vor Hunderten von Zuhörenden, spielte eine Schulklasse die Musik eines ermordeten Komponisten. Sie hatte einen Angehörigen eingeladen. Am Ende, mit Tränen in den Augen und einem Lächeln auf den Lippen, rief er uns zu: „Musik ist die beste Rache.“ Diesen Satz werden wir nicht vergessen. Er ist Vermächtnis und Auftrag zugleich. Die „Rache“ der Ermordeten, so deutete es der Sohn eines Überlebenden, sei es, die Musik weiterleben zu lassen, als Ausdruck von Menschlichkeit und Hoffnung.
Leise Gewöhnung an das Undenkbare
Doch auch der Gegenwartsbezug ist unübersehbar. Es ist eine Aufforderung, gerade heute, mit Musik im Herzen, entschieden gegen Antisemitismus aufzustehen. Besonders in Berlin, dem Sitz unseres Projekts, sind die Herausforderungen akut: Tausende antisemitische Vorfälle jährlich, Angriffe auf jüdische Einrichtungen, Hetzparolen auf Demonstrationen, all das gehört inzwischen zu einer schleichenden Gewöhnung an das Undenkbare.
Wir erleben es auch persönlich: Jüdische Musikerinnen und Musiker haben wieder Angst. Sie entfernen ihre Namen von Klingelschildern, sprechen Hebräisch nur noch flüsternd in der Öffentlichkeit. Lebensmelodien will hier ein Zeichen setzen, nicht moralisierend, sondern öffnend. Mit dieser Haltung sollte auch der Israelsonntag gestaltet werden: emotional, spirituell, politisch. Denn wo Worte versagen, kann Musik Brücken schlagen. Vielleicht haben Sie in den letzten Jahren eigene Wege gefunden, sich diesem Thema zu nähern. Ich freue mich über den Austausch.
Michael Raddatz ist Superintendent im Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg und Direktor des Projektes „Lebensmelodien“.
Weitere Informationen über das Projekt „Lebensmelodien“ und Kontakt unter: www.lebensmelodien.com
