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Museumsdirektor: Wir müssen die Begegnung mit der Welt suchen

Das Museum Wiesbaden hat seine Türen vor 200 Jahren, am 1. April 1825, erstmals für die Öffentlichkeit geöffnet. „Johann Wolfgang von Goethe hat die Idee dazu ganz maßgeblich in die Welt getragen“, sagte Museumsdirektor Andreas Henning im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd). Selbst eine Sammlung für die Ausstellung hatte der Dichter vorgeschlagen. Dank des Engagements der Bürgerinnen und Bürger war es wenige Jahre später schließlich soweit und das Museum konnte öffnen. Das Verhältnis der Gesellschaft zu einer solchen Institution hat sich jedoch verändert, sagte Henning.

epd: Herr Henning, vor etwas mehr als 200 Jahren hatte Johann Wolfgang von Goethe die Idee, dass in der aufstrebenden Kurstadt Wiesbaden ein Museum geschaffen werden müsse. Welche Idee trägt das Haus heute?

Henning: Es ist damals wie heute Kultur und Bildung. Das Museum ist ein Ort, an dem sich die Gesellschaft mit sich selbst ins Benehmen setzen und ihre Geschichte anhand der Kunstwerke sowie der Objekte aus der Natur reflektieren kann. Und wenn man sich Kita-Gruppen oder Schulklassen anschaut, sieht man, dass das Haus auch ein Ort ist, an dem Demokratie geübt wird. Wenn man gemeinsam vor einem Objekt steht und es sechs verschiedene Meinungen zur selben Sache gibt, muss man das aushalten und zulassen lernen.

epd: Wie hat sich das Verhältnis der Gesellschaft zur Institution Museum verändert?

Henning: Das Selbstverständnis, dass so ein Musentempel zur Gesellschaft dazu gehört, ist nicht mehr in dem Maße gegeben, wie das zu Goethes Zeit der Fall war. Es ist für viele Menschen nicht selbstverständlich, ins Museum zu gehen, weil sie es beispielsweise als Kind nicht erlebt haben. Und das ist eine der großen Herausforderungen, vor denen wir heute stehen: Den Zugang zu einem Ort, der nicht mehr selbstverständlich ist, attraktiv zu gestalten und zu ermöglichen.

epd: Woran liegt das?

Henning: Es fehlt die Grundhaltung, dass man ein Weltbürger ist und deswegen auch viel über die Welt und das eigene Leben wissen möchte. Zugleich können wir uns alles, was wir heute an Informationen brauchen, schnell aus dem Internet zusammensuchen. Doch diese digitale Zugänglichkeit suggeriert nur, dass wir viele Weltbegegnungen haben. Zu denken, wenn ich etwas auf dem Bildschirm gesehen habe, habe ich es gesehen, ist falsch. Es ist nur eine Info-Ebene, keine Begegnung mit dem Objekt. Das Besondere am Museum ist ja, dass es mit originalen Objekten arbeitet, nicht mit Abbildungen. Hier ist das physische Objekt. Ich muss davor treten, mich davor bewegen, vielleicht mit anderen Menschen interagieren. Das ist ein sinnlich-emotionaler Zugang. Und ich denke, dass dieser Zugang verlernt wird, weil wir uns auf das Digitale konzentrieren, aber nicht mehr die Weltbegegnung suchen. Ich nehme an, dass wir da eine ganz entscheidende Dimension von Menschlichkeit verlieren. Deswegen ist es uns ganz wichtig, gerade mit Kitas und Schulklassen zu arbeiten, damit das für diese jungen Menschen selbstverständlich wird, am Objekt zu agieren.

epd: Kommt das bei den jungen Menschen gut an?

Henning: Wir hatten im vergangenen Jahr mehr als 850 pädagogische Gruppen da, mit denen wir hier zusammen gearbeitet haben. Und darauf bin ich stolz. Das ist für mich die wichtigste Form von nachhaltiger Museumsarbeit. Außerdem hatten wir mehr als 180 Kindergeburtstage, die hier gefeiert wurden. Das ist wichtig, um die Menschen auch zukünftig fürs Museum zu gewinnen. Wir erleben bei vielen Kindern, dass sie nicht mehr mit ihren Eltern oder Großeltern zum ersten Mal ins Haus kommen, sondern über die Kita-Gruppe oder die Schulklasse.

epd: Sie sagten einmal, dass jede Generation ihre eigenen Forderungen an ein Museum stellen müsse. Was ist damit gemeint?

Henning: Ich denke, die aktuelle Generation muss die Frage an das Museum stellen: Was genau ist ein sinnlich-ästhetisches Erlebnis an einem Original, einem physischen Objekt?

epd: Und was ist das?

Henning: Eine Sinneswahrnehmung, bei der ich mit dem ganzen Menschsein dabei bin. Vor einem Objekt komme ich ins Sehen, ins Wahrnehmen des Raumes, ich nutze meinen Gleichgewichtssinn, weil ich mich bewege. Ich höre Dinge, nehme wahr, erlebe Emotionen, reagiere, komme ins Staunen, bin neugierig, will etwas wissen. Es ist ein ganzer Prozess, der Zugang zu einem Objekt schafft – und bei dem ich mit dem Innersten meines Selbst beteiligt bin.

epd: Welche Forderung sollte die aktuelle Generation also stellen?

Henning: „Zeigt uns, wie wir in eine sinnlich-ästhetische Wahrnehmung kommen, weil das eine wichtige Dimension von Menschsein ist.“ Diese Generation heute muss sich fragen: Wie kommen wir an diesen beschriebenen Zugang ran? Wie können wir das Erleben? Wie halten wir uns im Bewusstsein, dass das wichtig ist? Wie verlernen wir das nicht von dem Gestarre auf das Smartphone? Ich sehe darin aber auch eine große Chance. Entweder wir gehen den Schritt gemeinsam oder wir als Museum werden über kurz oder lang unwichtig, geraten in Vergessenheit und können die Türen schließen.

epd: Nun geht es aber erst einmal um die offenen Türen zur Jubiläumsfeier. Am 1. April öffnen sie den fünften und letzten Themenraum der Dauerausstellung „Ästhetik der Natur“, er behandelt den Wandel. Was erwartet die Besucherinnen und Besucher dort?

Henning: Der Wandel ist in der Natur ein grundlegendes Phänomen, die Metamorphose ein Grundprinzip des Lebendigen. Wir werden gigantische Zeiträume der Wandlung aufzeigen, etwa bei der Mineralienbildung. Es geht aber auch um die Metamorphose im Tierreich, von der Raupe zum Schmetterling. Eine der entscheidenden Forscherinnen dazu war Maria Sibylla Merian, die 1699 nach Südamerika ging und dort zwei Jahre gearbeitet hat. Die Präparate, die sie damals mitbrachte, sind seit 200 Jahren bei uns im Depot. Der „Wandel“-Raum wird deshalb ihr gewidmet sein. Und natürlich geht es auch um aktuelle Fragen des Klimawandels. Was dieser bedeutet, wird auf einem multimedial bespielbaren Globus zu sehen sein.