Der Schriftsteller Michael Ende (1929-1995) war kritisch, was Verfilmungen seiner Romane anbetraf. Von “Die unendliche Geschichte” hielt er so wenig, dass er sogar rechtlich dagegen vorging. Bei der “Momo”-Adaption von Johannes Schaaf war er 1986 milder gestimmt; in einer kleinen Szene ist er sogar selbst zu sehen.
Insofern übernahm Christian Ditter bei der Neuverfilmung eine durchaus schwierige Aufgabe. So unmöglich es wäre, sich die Haltung von Michael Ende auszumalen, so darf man doch die Frage stellen, ob der Film in der Lage ist, Geist und Haltung von Endes nachdenklichem Buch einzufangen und in die Gegenwart zu tragen. Man muss diese Frage mit einem entschlossenen “Jein” beantworten.
Freundschaften prägen die Handlung der Momo-Neuverfilmung
Das Mädchen Momo (Alexa Goodall) lebt ohne Familie in einem Amphitheater, das einem geschrumpften Kolosseum ähnelt. Die Nachbarn kümmern sich um sie, im Gegenzug hört Momo ihnen auf eine Weise zu, wie sonst kaum jemand zuhören kann. So dass sich Fragen und Streitereien wie von selbst auflösen – vielleicht, weil sich die Menschen auf einmal selbst so zuhören, wie das Mädchen ihnen zuhört.

Besonders wichtig für Momo sind Beppo Straßenfeger (Kim Bodnia) und der Fremdenführer Gino (Araloyin Oshunremi); der eine schweigsam und aufmerksam nachdenkend, der andere gesprächig und wild fabulierend. Bei Michael Ende bilden diese drei Figuren ein Dreieck, in dem sich ihre Eigenheiten des Zuhörens und Sprechens ergänzen. Dadurch wird der Realität viel Aufmerksamkeit eingeräumt, während die Fantasie sich zugleich austoben kann.
Momo-Neuverfilmung setzt stärker auf Bilder und Erzählerstimme
In dem neuen Film werden die Figuren weniger durch ihre Handlungen eingeführt, sondern über viele Bilder und ein erzählendes wie auch deutendes Voice-over (“Sie hörte mit Liebe und Verständnis zu”), das wesentliche Punkte aus den ersten Kapiteln des Buches zusammenfasst. “Momo” kommt auf diese Weise schneller zu dem Teil der Handlung, die mehr Bewegung verspricht: dem Auftauchen der “grauen Herren” (und Damen) und den bösen Geschäften der Zeitsparkasse, die sich hinter dem Konzern “Grey” verbergen.

Ihr Versprechen: Wer Zeit einspart und nicht verschwendet, etwa durch müßiges Zusammensitzen, Spielen oder Reden, kann die so gesammelte Zeit später abheben, um damit etwa endlich den lange erträumten Urlaub mit der Familie zu unternehmen. Das Perfide daran aber ist nicht nur, dass es diese Zeit dann nicht mehr gibt, weil die grauen Figuren die Zeit für sich selbst verbrauchen – sie leben buchstäblich durch gestohlene Zeit; sondern dass so jene Taten unterbleiben, die das Leben erst lebenswert machen.
Momo-Neuverfilmung: Kritik an digitaler Zeitsparlogik
Ditter findet ein gelungenes Bild für den Drang zum Zeitsparen: Ein elektronisches Armband, das “Greycelet”, zeigt sofort an, wann Zeit effektiv eingesetzt wird – dann leuchtet es grün – und wann sie verschwendet wird – rot! Smartwatches und Fitness-Tracker lassen grüßen. Nicht nur hier ist die digitale Aufmerksamkeitsökonomie präsent, ohne dass jemand je “TikTok” sagen müsste; das Ticken von Uhren ist allerdings schon in den ersten Sekunden des Films zu vernehmen.
Gino wird in dieser Variante zum Influencer und muss gegen Ende feststellen, dass er keine Geschichten mehr erfinden kann – dafür fehlen ihm Zeit, Ruhe und Muße. Getrieben von seinen Verträgen mit “Grey”, muss er vielmehr ständig neuen Content produzieren und präsent sein. Es gelingt “Momo” hier gut, den Einfluss des “Zeitsparens” auf den Alltag einzufangen.
Momo-Neuverfilmung zwischen digitaler Kontrolle und Eile
Mit anderen Worten: Der Roman von Michael Ende ist so aktuell wie eh und je; die Greycelets sind im Grunde noch harmlose Manifestationen digitaler Kontrolle und auf Effektivität getrimmter Arbeitsprozesse. Leider aber verfällt der Film selbst in die Muster dieser Welt und lässt sich keine Zeit, um etwa Ginos weit ausgreifende Geschichten – ein großes Glück des Romans – zu erzählen. Auch Beppos Nachdenken bekommt genau das nicht, was es benötigt, um so kraftvoll zu werden: Zeit.
Das Glück der Ruhe kann sich ebenso wenig entfalten wie die Tiefe der Gedanken. Schlimmer noch: der Zauber des Erzählens kommt zu kurz. Für eine Erzählung, in der es darum geht, sich nicht dem Rhythmus größtmöglicher Effektivität hinzugeben, sondern sich Zeit zu lassen für Geschichten, hat es dieser Film verdammt eilig.
