Miteinander reden statt übereinander

Rund 200.000 Juden leben in Deutschland. Viele Menschen aber kennen keinen persönlich. Das wollen die Referenten von „Rent a Jew“ ändern.

Der Jude Gerald Deutsch erläutert Kindern seine Kippa
Der Jude Gerald Deutsch erläutert Kindern seine KippaHeike Lyding / epd

Frankfurt a.M./München. „Darf ich mal anfassen?“ Fasziniert streicht Asher über das schwarze Leder des jüdischen Gebetsriemen, den Gerald Deutsch mitgebracht hat. Der 23-Jährige Deutsch ist Referent bei „Rent a Jew“. Gemeinsam mit seiner Kollegin Gabriela Chauskin stellt er sich an diesem Tag den Fragen von Jungen und Mädchen des Kinder- und Jugendverbands SJD-Die Falken in Frankfurt am Main.

Die Organisation „Rent a Jew“ („Miete einen Juden“) vermittelt ehrenamtlich jüdische Referenten an Schulen und andere Bildungseinrichtungen. Das Konzept: persönliche Begegnungen schaffen, um Klischees aus dem Weg zu räumen.

„Dürfen jüdische Frauen Hosen tragen?“, möchte Nelly wissen. „Und Männer Röcke?“, wirft Nils gleich die zweite Frage in den Raum. Beides verneint Gabriela Chauskin: „Also im orthodoxen Judentum nicht. Im liberalen Judentum sieht das anders aus.“ Sie selbst trage nur Röcke und Kleider. Heute hat sie sich für ein schwarzes, knielanges Exemplar mit Blumendruck entschieden.

Kein Handy am Sabbat

Die 22-jährige Chauskin wurde religiös erzogen. Vor 19 Jahren kamen sie und ihre Eltern aus Lettland nach Deutschland. In Frankfurt besuchte sie eine jüdische Schule. Die Jugendlichen haben es sich mit Socken auf der Holzbank bequem gemacht und naschen Schokolade, während sie vom jüdischen Alltag erzählt. „Wir halten den Sabbat ein. Von Freitagabend bis Samstagabend wird auch kein Handy benutzt, die Zeit gehört nur der Familie“. Schockierte Blicke in der Runde.

Gerald Deutsch lebt seinen Glauben nicht so streng aus. Der Student wurde in Deutschland geboren, seine Eltern stammen aus Osteuropa. Seine Bar Mizwa – das Fest der religiösen Mündigkeit von Jugendlichen – hat er gefeiert. Aber an die jüdischen Gesetze zur koscheren Ernährung hält er sich nur teilweise. Einmal die Woche versucht er zu beten, wie er erzählt. Behutsam zieht er seine türkisfarbene Kippa aus einem Stoffbeutel, der mit goldenen hebräischen Buchstaben bestickt ist, zeigt sie den Kindern.

Die Macher von „Rent a Jew“ achten darauf, dass die Referenten aus unterschiedlichen religiösen Strömungen kommen. „Wir wollen die Vielfalt jüdischen Lebens zeigen“, erklärt Mascha Schmerling, die die Organisation 2014 gemeinsam mit zwei Bekannten gegründet hat. Durchschnittlich sind die bundesweit mehr als 100 Referenten um die 30 Jahre alt, regelmäßig besuchen sie Fortbildungen. Im vergangenen Jahr seien 150 „Rent-a-jew“-Besuche organisiert worden, in diesem Jahr habe es schon im ersten Quartal 100 Anfragen gegeben.

Wenig Antisemitismus erlebt

Der Name „Rent a Jew“ provoziert. Die Gründerinnen haben sich bewusst dafür entschieden. „Wir wollen zeigen, dass wir nicht nur in der Opferrolle sind“, sagt Schmerling. Meistens verbänden die Menschen Juden sofort mit dem Holocaust. Der Name zeige auch den jüdischen Humor und sei Ausdruck des Selbstbewusstseins vieler Juden.

Selbstbewusst sind auch Gabriela Chauskin und Gerald Deutsch. Direkten Antisemitismus hätten die beiden bisher kaum erfahren, sagen sie. „Bis jetzt!“, ergänzt Gabriela und klopft dreimal auf den Tisch. Vorurteile hörten sie dagegen ständig. Manchmal seien Leute überrascht, wenn sie sich als Jüdin vorstelle. Und: „Was, ihr lebt noch?“, diesen Spruch hat die angehende Erzieherin schon häufiger gehört. „Whaaat?“ ruft Asher empört.

Er und die anderen elf- bis 14-Jährigen des sozialistischen Kinder- und Jugendverbands haben sich bereits mit dem Judentum beschäftigt. Sie waren im Anne-Frank-Haus in Amsterdam, haben das jüdische Museum in Frankfurt und den dahinterliegenden Friedhof besucht.

Lasse bringt ein sensibles Thema ein: „Bei uns haben eigentlich alle muslimischen Schüler was gegen Juden. Keine Ahnung, warum.“ Dabei hätten Juden und Muslime vieles gemeinsam, erklärt Gabriela Chauskin: „Wir essen koscher, Muslime halal.“ Auch die gesellschaftliche Rolle als „Sündenbock“ würden Muslime kennen. „Meine besten Freunde sind Muslime“, betont die junge Jüdin.

Absage an die AfD

Die Kollegen von „Rent a Jew“ hätten bisher nur positive Erfahrungen auf ihren Einsätzen gemacht, sagt Schmerling. Die Organisation behält sich jedoch vor, auch Anfragen abzulehnen. So musste die AfD schon einmal eine Absage kassieren. „Wir wollen uns nicht für politische Interessen instrumentalisieren lassen“, stellt Schmerling klar.

„Rent a Jew“ ist für die Teilnehmer kostenlos, nur Reisekosten müssen eventuell erstattet werden. Die Organisation ist eine Initiative der Europäischen Janusz-Korczak-Akademie und wird unterstützt von der Jewish Agency for Israel. In diesem Jahr ist sie auch Trägerin des Startsocial-Stipendiums unter Schirmherrschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Inzwischen ist es bei den „Falken“ in Frankfurt halb sieben. Die Kinder haben noch viele Fragen. „Und habt ihr auch einen Papst?“, will Lasse wissen. „Nein“, erwidern die Referenten gleichzeitig. Wenn es um wichtige, religiöse Fragen zum Beispiel zur Hochzeit geht, wenden sich Juden an ihren Gemeinde-Rabbiner.

„Und Jungs müssen sich beschneiden lassen?“, bohrt Lasse weiter nach und steckt sich ein paar von den koscheren Gummibärchen in den Mund. Die hat Gabriela Chauskin mitgebracht. Aufgeregt fragt Nils direkt hinterher: „Und vergrabt ihr die Vorhaut auch? So wie im Film ‚Monsieur Claude und seine Töchter‘? Da hat der Hund die Vorhaut gefressen.“ Alle lachen. „Nee, die landet im Müll“, klärt Gabriela Chauskin auf. (epd)