Mein Erweckungserlebnis hatte ich in der Schule. Nicht im Gottesdienst, nicht bei der Bibellektüre. Im Gegenteil: Beides hat bei mir mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Es war auch keine Erweckung im klassischen Sinne. Die brauchte ich nicht mehr. Angerührt vom „lieben Gott“ war ich nämlich schon vorher. Das hatte das Elternhaus besorgt.
Nein, meine ganz persönliche „Erweckung“ fand im Religionsunterricht der Oberstufe statt und war gänzlich anderer Natur. Sie traf nicht mein religiöses Gefühl, sie traf meinen Kopf, meinen Verstand. Denn viele Fragen gab es damals nach (und trotz) der Konfirmation: Was sagen uns die alten Texte? Die Worte der Bibel oder des Glaubensbekenntnisses? Wie lassen sich die Widersprüche auflösen? Und was ist mit den Geschichten, die jeglicher naturwissenschaftlicher Erfahrung und Kenntnis widersprechen: Jungfrauengeburt, Wundertaten, Auferstehung, Himmelfahrt?
Es war die Lektüre eines kleinen Büchleins des Theologen Willy Marxsen, die die „Erweckung“ ausgelöst hat. Plötzlich war klar: Es waren ja Menschen, die die Texte aufgeschrieben, bearbeitet, weitergegeben haben. Ganz viele, ganz unterschiedliche Menschen, die – genau wie wir es heute sind – ihrer Zeit verbunden waren und deren Ideen und Überzeugungen.
Damit war zwar nicht jedes Detailproblem geklärt, aber die große Linie, die Grundfrage. Vor allem: Vertrauen konnte wachsen in die Theologie, die sich nicht damit begnügt, Glaubenssätze zu verkünden, sondern die sich bemüht, die Fragen der Menschen auf intellektueller Ebene zu beantworten.
Das ist 40 Jahre her. Die Gesellschaft ist seither bunter und vielfältiger geworden. Auch in reli-
giöser Hinsicht. Bei immer weniger Kindern und Jugendlichen kann man heute voraussetzen, dass sie im Elternhaus Berührung mit dem Glauben haben. Das alles hat den schulischen Religionsunterricht nicht leichter gemacht. Aber seine Chancen liegen nach wie vor auf der Hand.
Wo, wenn nicht dort, können junge Menschen verstehen, woher ihr Glaube, woher der Glaube ihrer Mitschüler kommt, welche Grundideen dahinterstecken, wo Vertreter ihrer Religion Gutes getan haben und wo sie sich vergangen haben an ihren Mitmenschen? Denn auch das sollte man wissen. Weil es demütiger macht im Blick auf den eigenen Glauben. Und nicht zuletzt: Wo, wenn nicht im Religionsunterricht, kann man die Geschichten kennenlernen, die die Kunst, die Literatur, die Musik und die Architektur unserer europäischen Kultur geprägt haben.
Ja: Dies ist ein Plädoyer für den schulischen Religionsunterricht. Er muss auf der Höhe der Zeit bleiben, sich immer wieder verändern und erneuern, damit er die Kinder und Jugendlichen erreicht. Ihren Verstand und manchmal sogar, wenn‘s gut läuft, auch ihr Herz.
Bei mir jedenfalls hat der Religionsunterricht dazu beigetragen, dass ich mich nicht abgewendet habe vom Glauben, in dem ich aufgewachsen war. Obwohl oder vielleicht gerade weil er nicht missionarisch war (siehe dazu auch Seite 2).
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Mit Herz und Verstand
Dass Jugendliche in der Schule „bekehrt“ werden könnten, darf bezweifelt werden. Wichtig ist, Wissen zu vermitteln, gerade in unserer multireligiösen Zeit