Mit einer Stimme

In der Nacht hat es geschneit. Auf dem alten Gartenfriedhof hinter St. Marien mitten in Hannover liegt weißer Puder, und im Gemeindehaus ist die Heizung kaputt. Aber die Seitenkapelle ist schön warm, und da versammeln sich jetzt sieben Frauen und zehn Männer zum Wohnungslosenchor. So nennt sich ein soziales und musikalisches Projekt des niedersächsischen Chorverbands, unterstützt durch die Diakonie und die Bürgerstiftung Hannover. Projektleiter ist Willi Schönamsgruber, von Beruf Diakon im Ruhestand, mit dem Herzen Musiker.

Der packt die Gitarre aus, installiert sich vor dem Altar und spielt den Gospel „This little light of mine“. Alle stimmen ein, laut und kräftig, etwas schief, aber mitreißend. Manche sitzen auf den Kirchenbänken, die meisten stehen in einem lockeren Halbkreis um die Säule in der Raummitte herum. Hier wird nicht nach Sopran, Alt, Tenor und Bass getrennt. Der Wohnungslosenchor singt mit einer Stimme.

„Wir wollen uns Gehör verschaffen“, erklärt Bernd Brandenburg. Er trägt eine Schirmmütze, wie viele hier, und Vollbart. Zur Probe ist er mit zwei großen Plastiktüten erschienen. „Wir singen, damit die Wohnungslosen eine Stimme haben.“ Nachdem er drei Jahre in einer „Übergangseinrichtung“ zu Hause war, hat er seit Oktober eine eigene Wohnung in einem kirchlichen Wohnprojekt.

Vom Chor erfuhr Brandenburg über ein Plakat im „Mecki“, dem Tagestreff für Wohnungslose am Hauptbahnhof. Das brachte wohl etwas in ihm zum Klingen, denn: „Ich war auf dem Musikzweig eines Gymnasiums und habe schon als Schüler gesungen.“ Bis zu ihrem nächsten Auftritt mit roten Zipfelmützen bei einem Weihnachtsmarkt in der Innenstadt sind es nur noch wenige Tage.

Heute sollen die Lieder dafür ausgesucht werden. „Wir haben 30 Minuten für unseren Auftritt, das sind zehn Lieder“, ruft Schönamsgruber durch das Stimmengewirr. „’This little light of mine‘ können wir da gut singen, und ‚Hallelujah‘ ist auch gesetzt.“ Genau wie die anderen beiden Erkennungslieder des Wohnungslosenchores: „Nie zu spät“ und „Straßen unserer Stadt“ – Songs über Armut. Und Mut. Nur eine Handvoll solcher Chöre für ausgegrenzte Menschen gibt es in Deutschland, erläutert Schönamsgruber. In Berlin und Osnabrück zum Beispiel. Und eben in Hannover.

Am liebsten werden hier Texte mit menschlicher und politischer Botschaft gesungen, aber jetzt, so kurz vor Weihnachten, darf es auch mal „Feliz Navidad“ sein. Zeit für Sorgen ist nach der Probe noch genug. Der musikalische Leiter Rudolf Neumann haut am Keyboard in die Tasten, und Manijeh Arbabian-Eckhard, ebenfalls im Leitungsteam, bewegt sich im Rhythmus und ruft: „Jetzt will ich die Choreografie sehen!“ In Zweiergruppen treten die Leute vor und schmettern ihre Soli.

Arbabian-Eckhard fühlt sich „für den psychosozialen Aspekt im Chor“ zuständig. Sie sagt: „Ich bin involviert in die einzelnen Schicksale, in das, was sich nicht zeigt in der Probe.“ Ein vietnamesisches Mitglied zum Beispiel sei von der Abschiebung bedroht. Außerdem kauft sie Dienstagfrüh vor der Probe noch Brötchen, Getränke, Käse und Salami für einen gemeinsamen Brunch.

Einige kommen mit leerem Magen. Andere haben vor der Probe gut gegessen und sind auch gar nicht oder nicht mehr wohnungslos, singen aber trotzdem mit. „Manchmal gibt es Streit ums Essen und darum, wer die leeren Pfandflaschen hinterher mitnehmen darf. Man merkt schon die Not“, sagt Arbabian-Eckhard. „Aber hier wird eine Beständigkeit geboten, die für uns alle wichtig ist.“

Einer, der noch keine Probe verpasst hat, ist Willi Royda. Schönamsgruber sprach ihn vor fünf Jahren am Raschplatz in Hannovers Innenstadt an – er gründe einen Chor, ob Willi Royda sein erstes Mitglied sein wolle. Wollte er. „Ich habe mich so gefreut, dass ich angesprochen wurde, und dachte, Mensch, singen, ey, das ist wunderbar! Ich war hingerissen.“

Am Freitag (15. Dezember) tritt der Chor vor großem Publikum auf. Er gehört zu den Mitwirkenden beim großen Stadionsingen in Hannover, zu dem die evangelische Kirche und mehrere Partner als Veranstalter viele Tausende Menschen in der Heinz von Heiden Arena des Zweitligisten Hannover 96 erwarten.

Mit ihrer Musik setzen sich die Sängerinnen und Sänger des Wohnungslosenchores dafür ein, „dass Menschen von der Straße wegkommen“, wie Schönamsgruber sagt. Und wenn es hilft, auch mit roter Zipfelmütze.