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Mit einer Prise Mut pilgern

Im Jahr 2024 sind fast eine halbe Million Menschen auf dem Jakobsweg gepilgert. Menschen stellen sich dort ihren existenziellen Fragen. Warum es sich lohnt, sich darauf einzulassen. Ein Kommentar.

Unterwegs auf dem Pilgerweg – Schritt für Schritt zur inneren Ruhe und neuen Perspektiven
Unterwegs auf dem Pilgerweg – Schritt für Schritt zur inneren Ruhe und neuen Perspektivenepd-bild / Harald Koch

Die Sommerzeit lockt ins Freie: an den See, in den Garten, in den Park, in den Wald oder an einen Kraftort. Die Sommerzeit ist eine Zeit, in der wir gerne mit Anderen oder ­allein im Freien unterwegs sind. Sie ist auch eine gute Zeit, mal das ­Vertraute zu verlassen und auf­zubrechen zu einem noch un­bekannten Ort. Dies kommt der wörtlichen Übersetzung des lateinischen Wortes „peregrinus“ in dem deutschen Wort „Pilger“ sehr nahe: „in der Fremde sein“. Auf unbekannten Wegen und Umwegen ist der ­Gehende unterwegs. Für mich ist die Sommerzeit deshalb auch eine Zeit, betend mit den Füßen unterwegs zu sein, nämlich als Pilger. Viele Menschen machen sich ­jeden Sommer und zu allen Jahreszeiten pilgernd auf den Weg, und das nicht nur nach Santiago de Compostela.

Das Pilgern gehört zur größten religiösen Bewegung der Gegenwart: 2024 war eine halbe Million Pilgerinnen und Pilger auf dem Jakobsweg unterwegs. Im Jahr 2024 hat das ­Pilgerbüro in Santiago de Compostela 499239 Urkunden für Ankommende ausgestellt. Das ist ein neuer Rekord. Als Pilgerin und Pilger im Sommer unterwegs zu sein, das geht auch vor der eigenen Haustür. Es gibt in Deutschland viele wunderbare Pilgerwege, zum Beispiel den ökumenischen Pilgerweg von ­Görlitz nach Vacha, den Pilgerrundweg um das Benediktinerkloster Huysburg nähe Halberstadt, den Pilgerweg von Berlin nach Bad ­Wilsnack, den Spandauer Pilgerweg oder den ­Lutherweg in Sachsen-­Anhalt. Das Schöne am Pilgern ist für mich, dass alle Sinne in Bewegung kommen: Naturerfahrungen verbinden sich mit Körpererfahrungen.

Pilgern vor der eigenen Haustür

Nach einer langen Wegstrecke am Etappenziel anzukommen und sich bei einer Brotzeit zu stärken, gehört wesentlich zum Weg. Pilgern fordert den Menschen heraus, es braucht eine kleine Prise Mut, sich auf das Unbekannte einzu­lassen. Natürlich braucht es auch eine gute Planung und einen Rucksack, in dem alles Notwendige drin ist. Wer mit einer Prise Mut aufbricht, kann fündig werden. Auf den vielen Pilgerwegen ­verbindet sich das äußere Ziel mit einem inneren Weg: Oft ist es ein Kraftort, an dem sie ankommen: ­eine Kirche, eine Grabstätte oder ein Kloster. Auf diesem Weg zum Ziel geht der Pilgernde einen inneren Weg. Das Pilgern unterscheidet sich vom Wandern darin, dass existenzielle Fragen des Lebens auf dem Weg mitgehen: Welche Lebensspur grabe ich in diese Welt ein? Worin gründet mein Leben? Wer bin ich? Was möchte ich auf dem Weg ab­legen? Mit diesen Lebensfragen wird der Pilgerweg zu einem Weg, der in die Tiefe und in die Weite führt.

Günter Hänsel, Pfarrer und begeisterter Pilger, schreibt über spirituelle Wege und die Kraft des Unterwegsseins
Günter Hänsel, Pfarrer und begeisterter Pilger, schreibt über spirituelle Wege und die Kraft des UnterwegsseinsJulia Martin

Sich auf dem Weg auch aus­zutauschen, hat eine heilsame Wirkung. Manches wird auf dem Weg leichter und klärt sich. Manche ­Gedanken werden losgelassen oder neue Perspektiven kommen hinzu. Bei manch einem wird das Gepäck leichter. Es ist ein Weg, der von leichten und schweren Strecken ­geprägt sein wird. Mit diesen Fragen in der Sommerzeit allein oder mit Freundinnen und Freunden ­unterwegs zu sein, das kann vor der Haustür beginnen und sich vielleicht auf einem Pilgerweg für ein bis zwei Tage fortsetzen. Oft steht eine Sehnsucht am Anfang des Weges. Hape Kerkeling schreibt in seinen berührenden ­Pilger-aufzeichnungen, dass es ihm darum geht, „durch die Pilgerschaft zu Gott und damit auch zu mir zu finden“.

Ein spiritueller Weg

Der Pilgerweg kann zu ­einem spirituellen Weg werden. Das Leben kennt oft beides: „Schönheit und Schrecken“, wie es Rainer ­Maria Rilke in seinem Gedicht „Gott spricht zu jedem nur, eh er ihn macht“ (4. Oktober 1899, Berlin-Schmargendorf) schreibt. Der Pilgerweg kann zur Grenz­situation werden, auch das Leben kennt diese Zeiten. Das Ziel kommt einem unerreichbar vor und der Rucksack scheint immer schwerer zu werden. Rilkes Gedicht endet mit den zarten Worten „Gieb mir die Hand“. Auf meinen kürzeren und längeren Pilgerwegen ist in mir ­diese leise und sanfte Ahnung aufgestiegen: Auf allen Wegen und Umwegen geht Gott mit. Gott kommt mir entgegen und gibt mir seine Hand. Gott weiß um meinen Weg und mein Leben. Das ist mir Frieden, Geborgenheit und Glück.

Am Sonntag, 3. August, um 18 Uhr gibt es einen Pilgergottesdienst. Treffpunkt: Johanneskirche, Berlin-Schlachtensee, Ende gegen 20 Uhr an der Emmaus­kirche in Berlin-Zehlendorf.

Günter Hänsel ist Pfarrer in Berlin-Schlachtensee, Pilgerbegleiter und Beauftragter für Spiritualität im Kirchenkreis Teltow-Zehlendorf.