In der Nacht hat es geregnet. „Heute finden wir vielleicht keine Wolfsspuren“, sagt Kenny Kenner, „die könnten weggewaschen sein“. Kenner ist ehrenamtlicher Wolfsberater im niedersächsischen Landkreis Lüchow-Dannenberg, hauptberuflich betreibt er ein Bio-Hotel. Alle zwei Wochen führt er Herbergsgäste und andere Interessierte auf mehrstündigen Wolfswanderungen durch die Göhrde, das größte zusammenhängende Mischwaldgebiet Norddeutschlands mit alten Bäumen, Naturdenkmälern und seltenen Tierarten.
Seit zehn Jahren leben in der Göhrde auch wieder Wölfe in freier Wildbahn. Damals siedelte sich zunächst ein Wolfspaar an, im Sommer 2016 wurden erstmals Welpen nachgewiesen. „Das Göhrde-Rudel ist ein besonderes Rudel“, sagt Kenner. „Und es ist besonders gut dokumentiert.“ Er selbst hat viel dazu beigetragen: An rund 40 Stellen im Wald hängen seine Wildtierkameras, etliche Nächte hat er sich auf Hochsitzen um die Ohren geschlagen, um in der Morgendämmerung einen Wolf zu fotografieren.
Das Göhrde-Rudel umfasst vier Generationen, eine absolute Seltenheit: Das Elternpaar, ein jüngeres Paar, zwei Jährlinge, also im vergangenen Jahr geborene Tiere, sowie eine nicht genau bekannte Zahl von Welpen. „Hier hat die alte Wölfin erlaubt, dass eine Tochter bleibt und selber Kinder bekommt“, erklärt Kenner. Die meisten Wölfe würden mit einem oder anderthalb Jahren von den Eltern verstoßen, sie gingen auf Wanderschaft und versuchten, eigene Rudel zu gründen. Dabei legen sie oft gewaltige Strecken zurück: Anfang dieses Jahres wurde ein in Niedersachsen geborener Wolf in den spanischen Pyrenäen nachgewiesen.
Dann kommt schon die erste Frage. „Warum darf man Wölfe nicht einfach abschießen wie anderes Wild auch?“, will eine Frau wissen. „Muss es da nicht wenigstens eine Obergrenze geben?“ „Das regelt sich von ganz alleine“, hält Kenner dagegen. In Deutschland werde sich die Zahl bei maximal 3.000 bis 4.000 Tieren einpendeln, schätzt er, „für mehr gibt es keinen Platz und keine Nahrung“.
Weidetierhalter haben in der Vergangenheit immer wieder Wolfsrisse beklagt, das hat auch zu politischen Debatten geführt. Ende September haben sich Vertreter und Vertreterinnen der EU-Länder schließlich darauf verständigt, den Schutzstatus für Wölfe künftig von „streng geschützt“ auf „geschützt“ herabzustufen. Das soll mittelfristig Abschüsse der Tiere erleichtern. Noch aber sind keine neuen Bestimmungen in Kraft.
„Was ist mit den Wölfen, die Schafe reißen?“, fragt dann auch ein Teilnehmer auf der Wolfsführung. Wenn es mehrere Übergriffe gibt, die einem bestimmten Wolf zugeschrieben werden können, und kein anderes Mittel hilft, dann müsse man sie schon abschießen, sagt Kenner. Viel wirksamer sei aber „ein Herdenschutz, der diesen Namen auch verdient“. Die allermeisten von Wölfen gerissenen Weidetiere seien nicht oder nicht ausreichend geschützt gewesen. Wenn alle Halter zumindest den Grundschutz – einen 90 Zentimeter hoher Elektrozaun mit 4.000 Volt Spannung – installierten, „hätten wir nur 20 bis 30 Prozent der Risse“.
Der Wolfsberater weiß, dass die Auseinandersetzungen um den Wolf längst zu einem „Kulturkampf“ geworden ist: „Der Wolf steht so im Mittelpunkt, weil er die Menschen bewegt.“ Schon in Märchen und Mythen gerade im deutschsprachigen Raum seien Wölfe verteufelt und später ausgerottet worden. In anderen Ländern, Kenner nennt Italien und Spanien, seien die Menschen seit jeher an Wölfe gewöhnt und das Zusammenleben viel entspannter: „Mein Interesse ist, dass das Zusammenleben auch hier klappt.“
Plötzlich stoppt Kenner. Er hebt die Hand, beugt sich zum Boden. „Hier haben wir doch eine Wolfsspur“, sagt er. Der Abdruck im feuchten Sand sieht aus wie der eines größeren Hundes, doch Kenner ist sich sicher. Das Trittsiegel eines Wolfes ist länglich-oval, länger als breit, die kräftigen Krallenabdrücke sind gerade ausgerichtet. Im Vergleich dazu ist der Abdruck eines Hundes rundlich und die Krallen weisen in verschiedene Richtungen.
Leibhaftige Wölfe bekommen Kenners Wandergruppen kaum einmal zu Gesicht. Wohl aber „Rendezvous-Plätze“. Knapp zehn Wochen nach der Geburt ziehen die Welpen aus der Wurfhöhle auf solche Plätze um – kleine, von Buschwerk umgebene Lichtungen, abseits der Pfade und Wege. Hier bringen die Eltern den Jungen das Jagen bei. Und das Heulen. Jede Wolfsfamilie, weiß Kenner, hat ihren eigenen „Heuldialekt“. Wölfe heulen, um ihr Revier zu markieren. Oder aus Trauer, wenn der Partner stirbt. Der Mythos, dass Wölfe den Mond anheulten, stimme nicht. Ebenso wenig wie das oft grell überzeichnete Bild einer Menschen fressenden Bestie.
Aber wie verhält man sich, sollte man doch einmal einem Wolf begegnen? „Ruhig bleiben und Abstand halten, aber nicht weg- oder dem Wolf entgegenlaufen und ihn keinesfalls bewerfen“, sagt Kenner. Junge Wölfe seien zwar scheu, aber auch neugierig: Das Werfen mit Gegenständen könne von ihnen als Aufforderung zum Spielen verstanden werden.
„Und vor allem: Niemals Wölfe füttern!“ Kenner erinnert an den als „Kurti“ bekannt gewordenen Wolf aus der Lüneburger Heide. Er hatte sich ab 2015 mehrmals Menschen bis auf wenige Meter genähert und soll einmal sogar einer Spaziergängerin mit Kinderwagen und Hund hinterhergelaufen sein. Als erster Wolf seit der Wiedereinwanderung der Tiere nach Deutschland um die Jahrtausendwende wurde „Kurti“ amtlicherseits zum Abschuss freigegeben und 2016 getötet. Spätere Untersuchungen erhärteten den Verdacht, dass er wohl angefüttert worden war und deshalb seine Scheu verloren hatte. Der Tierkörper wurde präpariert und im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover ausgestellt.