Mit Abstand und Anstand

Nähe. Das ist ein Schlüsselbegriff in der evangelischen Kirche in den vergangenen Jahrzehnten. Nah bei den Menschen sein. So steht es in vielen Leitbildern. Und nun ist alles anders.

Die Corona-Krise fordert das genaue Gegenteil: Absagen, Abstand, Distanz. Der Verstand sagt: das ist richtig. Die täglichen Kurven, die die Ausbreitung des Virus zeigen, sprechen eine deutliche Sprache. Ansteckung muss vermieden werden.

Dafür zahlen viele in der Gesellschaft einen hohen Preis. Geschäftsleute, Freiberufler, Arbeitnehmerinnen stehen vor erheblichen Einbußen, wenn nicht gar vor dem Ruin. Die Ärmsten verzweifeln, wenn es keine Übernachtungsplätze und keine Suppenküchen mehr gibt. Bundeskanzlerin Merkel hat die Dramatik in ihrer TV-Ansprache klargemacht: „Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es keine Herausforderung an unser Land mehr, bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt.“

Wir müssen auf Abstand gehen, um andere zu schützen

Mittlerweile ist die Kanzlerin selbst in Quarantäne, und die schrecklichen Bilder aus Italien und Spanien sprechen einen deutliche Sprache. Am Coronavirus sterben eben nicht nur die, die „eh bald gestorben wären“, wie uns zynische Kommentare noch vor kurzer Zeit weismachen wollten. In den genannten Ländern sind es derzeit viele hundert Tote am Tag, die der Krankheit und ihren Folgen erliegen. Es ist ernst. Und für Christen eine nie dagewesene Herausforderung.

Wie kann Kirche den Menschen weiterhin nahe sein und sie begleiten, wenn physischer Kontakt untersagt wird? Bei allen kreativen Ideen dieser Tage, erschüttert das Kontaktverbot die Grundfesten christlicher Überzeugungen.

Nächstenliebe und Barmherzigkeit haben etwas zutiefst Körperliches. Der Samariter verbindet die Wunden des Verletzten. Jesus rührt Menschen an und legt ihnen die Hände auf. Dem Blinden in Betsaida streicht er Speichel auf die Augen. Und so sieht es auch im Alltag vieler Christen aus. Man nimmt in den Arm, streicht über den Kopf, hält die Hand, wischt Tränen ab. Nichts davon ist mehr erlaubt. Enger Kontakt ist nur noch zu „Angehörigen des eigenen Hausstands“ gestattet, so die offizielle Formulierung.

Nächstenliebe und Barmherzigkeit haben etwas zutiefst Körperliches

Das Jesuswort „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind“ muss umgeschrieben werden. Maximal zwei dürfen sich noch treffen, abgesehen von der engsten Familie. Wie will man dem Auftrag Christi noch gerecht werden, wie er ihn etwa im Gleichnis vom Weltgericht formuliert? Was die Menschen tun sollen, wird hier ganz klar beschrieben: Fremde aufnehmen, Nackte kleiden, Kranke und Gefangene besuchen. Wer anderen auf diese Weise hilft, hilft Gott selbst. So die Botschaft. Kein Wunder also, dass Christen unruhig werden, wenn sie die Bedürftigen nun gar nicht treffen dürfen. Aber langsam dringt es durch: Die „erste Pflicht“ ist nun Abstand halten und zuhause bleiben. Nur so lässt sich die Zahl der Neuinfektionen senken. „Fürsorge“ nennt es die Kanzlerin: „Fürsorge für ältere und vorerkrankte Menschen. Kurz gesagt: So retten wir leben.“

Leben retten durch Abstand. Das ist neu. Und eine schwere Übung. Die Unbeschwerten können das nicht aushalten und feiern sogar noch Corona-Partys. Selbst manche Gemeinden haben sich anfangs schwer damit getan, Gottesdienste und Veranstaltungen abzusagen. Und das nicht ohne Grund. Man müsse „die Bedeutung des Gottesdienstes als Quelle von Trost und Zuspruch ernst nehmen“, betonte die westfälische Präses Annette Kurschus noch vor zwei Wochen. Gemeinschaft kann tragen in schweren Zeiten. Selbst im Krieg hätten die Gottesdienste stattgefunden, erzählen die Alten. Obwohl der Vergleich hinkt.

Doch mittlerweile haben die staatlichen Anordnungen ohnehin die theologischen Diskussionen beendet. Niemand muss mehr darüber nachdenken, wie das Abendmahl noch gefeiert werden kann. Es gibt in nächster Zeit kein Abendmahl, nicht mal an Karfreitag oder an den Ostertagen. Dies ernstzunehmen und auszuhalten, das ist die Barmherzigkeit im Jahr 2020.

„Wir treten füreinander ein“, das bedeutet derzeit genau das Gegenteil dessen, was engagierte Christen gewohnt sind. Wenn nicht mal mehr die Kinder ihre Großeltern besuchen sollen. Wenn Angehörige nicht ins Krankenhaus dürfen.

Und wenn Beerdigungen nur noch im kleinsten Kreis erlaubt sind. In den Zeiten, als die Pest wütete, kümmerten sich Pfarrer, trotz der Gefahr, um Sterbende und Trauernde. Um solchen Mut kann es aber derzeit nicht gehen. Denn bei Corona stellt sich nicht zuerst die Frage, ob man sich selbst ansteckt, sondern ob man andere gefährdet. „Wir müssen auf Abstand gehen, um andere zu schützen“, so auch der lippische Landessuperintendent Dietmar Arends. Deshalb braucht es heute andere Helden. „Handfeste Hilfe leisten derzeit zu allererst diejenigen, die in Kliniken und Praxen tätig sind, als Ärztinnen und Ärzte oder im Pflegedienst. Andere halten die tägliche Versorgung aufrecht. Auch das ist Dienst am Nächsten.

Es gilt, neue Formen zu finden, einander beizustehen

Christen dagegen müssen neue Formen finden, einander beizustehen. Und da sind erste Ansätze zu beobachten: Predigten werden ins Internet gestellt, Seelsorge geschieht per Telefon, Gemeindegruppen organisieren Einkaufsdienste, Presbyter schreiben Briefe. Es entstehen wunderbare Beispiele von ganz praktischer Nachbarschaftshilfe. Gerade für die Älteren oder die in Quarantäne. Menschen spenden auch Geld oder machen Helfern kleine Geschenke. Das kann ebenfalls berühren. Die soziale Frage muss für die Kirche auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Und wenn sie gerade nicht überall anpacken kann, hat sie den Auftrag, auf noch größeres Leid hinzuweisen. Die Not der ganz Armen etwa oder die Situation der Flüchtlinge.

Diese wird in Europa nämlich immer katastrophaler, rückt aber in der öffentlichen Wahrnehmung fatalerweise in der Hintergrund. Hier liegt ein wichtiger Dienst, der genauso angegangen werden muss wie virtuelle Gebete und YouTube-Gottesdienste. Bloß weil die Gebäude geschlossen sind, muss und darf die Kirche nicht schlafen. Und schweigen schon gar nicht. Außer zum Gebet. Es gilt: Abstand und Anstand. Beides. So retten wir Leben. Hier und weltweit.