Mikrotrauma – Wenn kleine Verletzungen großen Schaden anrichten

Mobbing am Arbeitsplatz oder ein unberechenbarer Partner: Schwierigkeiten im Alltag können zu psychischen Verletzungen führen. Eine Psychologin wirbt dafür, solche seelischen „Nadelstiche“ nicht zu unterschätzen.

Manche Menschen scheinen ständig in „Habacht-Stellung“ zu sein. Andere vermeiden bestimmte Situationen, ohne dass ihnen das so recht bewusst ist. Wieder andere kämpfen mit Gefühlen von Schuld oder Scham, die keinen konkreten Auslöser zu haben scheinen. Hinter solch diffusen Belastungen kann ein sogenanntes Mikrotrauma stecken – darauf weist die Psychologin Sonja Unger hin, die ein gleichnamiges Buch veröffentlicht hat.

Mikrotrauma: Der Begriff klingt für Laien womöglich nach einem Widerspruch in sich. Wird ein Trauma nicht von einem großen, einschneidenden, katastrophalen Erlebnis ausgelöst? Unger mahnt zur Differenzierung. Von einem Trauma spreche man, wenn sich in Folge eines Erlebnisses spezifische Folgestörungen entwickeln, zum Beispiel eine Depression, Angst- oder Suchterkrankung. Die meisten Menschen denken beim Wort „Trauma“ wohl zunächst an ein Schocktrauma, also etwa einen Unfall. Doch wiederkehrende Verletzungen können ähnliche Folgen nach sich ziehen, „wenn Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder in ihrem Selbstwert gekränkt werden“, erläutert Unger.

Beschämung oder emotionaler Missbrauch, Beschimpfungen und Beleidigungen, aber auch ein dauerhaftes Ausbleiben von Anerkennung könnten durchaus Spuren hinterlassen, betont sie. Besonders gravierend seien die Auswirkungen, wenn eine Form von Abhängigkeit bestehe oder empfunden werde, also am Arbeitsplatz, in der Familie oder in einer Partnerschaft. „Wenn Betroffene sich immer wieder hilflos ausgeliefert fühlen, kann der Stress so intensiv werden, dass das Gehirn die Erlebnisse nicht mehr gut verarbeiten kann.“

Freilich, auch darauf weist Unger hin, geschieht dies nicht bei einer einzelnen Kränkung, mit der wohl jeder Mensch im Alltag gelegentlich fertig werden muss. Vielmehr könne eine Summe von Erfahrungen, die einzeln und für sich genommen verkraftbar wären, zu einer Überlastung führen. Entscheidend sei meist, dass Verletzungen wiederholt stattfinden und dass Betroffene die entsprechende Verbindung nicht kappen können.

Ein Alarmzeichen sei es, wenn man bestimmte Situationen immer wieder im Kopf durchspiele. Manche Menschen zögen sich zurück, fühlten sich dauerhaft niedergeschlagen oder versuchten, anderen alles Recht zu machen. Ebenso sollte man körperliche Stresssymptome ernstnehmen, die sich organisch nicht erklären lassen, etwa Kopfschmerzen oder Magen-Darm-Beschwerden.

Unger warnt vor einer Verwässerung von Begriffen. So fühle sich heute jeder „getriggert“, sobald er einmal wütend werde – „dabei handelt es sich um einen klar definierten Fachbegriff“. Wer um bestimmte Äußerungen kreise, für den sei eine klare Abgrenzung schwierig – Fachleute könnten jedoch die Folgen von Verletzungen erkennen und entsprechend handeln. „Daher würde ich immer raten, therapeutische Hilfe zu suchen, wenn jemand den Eindruck hat, an psychischen Beschwerden zu leiden.“

Ungers Ratgeber ist auch für ein Laienpublikum gut lesbar und bietet neben anschaulichen Beispielen auch praktische Übungen. Aufklärung sei wichtig, denn: „Einer unglaublichen hohen Anzahl an Menschen fällt es schwer, in unserer heutigen Zeit mental gesund zu bleiben.“ Jede und jeder vierte Deutsche erleidet laut Statistiken mindestens einmal im Leben eine psychische Erkrankung. Und obwohl das Thema spätestens seit der Corona-Pandemie mehr Aufmerksamkeit erfährt, beobachtet Unger auch weiterhin, dass sich viele Menschen „schämen, immer noch die Vorstellung haben, dass mit ihnen als Person etwas nicht stimme“.

Mikroverletzungen würden häufig nicht aus Auslöser einer Erkrankung erkannt, sondern als „alltägliche Geschehnisse betrachtet, die man beiseite schieben sollte“. Betroffene machten sich selbst sogar eher den Vorwurf, dass alle anderen doch ähnliches erlebten, aber offenbar gesund blieben, so Ungers Erfahrung. Dabei erfordere es durchaus Mut, sich einem Mikrotrauma zu stellen: Patientinnen und Patienten müssten sich oft mit tiefliegenden Verletzungen befassen. „Manche Wunden heilen nie“, sagt Unger. „Aber wir können Ausschau nach Verbandsmaterial halten, das wir täglich ohne viel Aufwand anlegen können, um die Wunde zu schützen.“