Große Leidenschaft fürs schleimige Weichtier – Mit Knetfiguren erzählt “Memoiren einer Schnecke” eine berührende tragikomische Lebensgeschichte. Der Film ist sehenswert – trotz oder grade wegen der seiner Skurrilität.
Bereits im Vorspann von “Memoiren einer Schnecke” offenbart sich das titelgebende Motiv: In Anlehnung an das ikonische Finale von “Citizen Kane” gleitet die Kamera durch ein Sammelsurium von Besitztümern – eine Flut aus Schneckenfiguren, Bilderrahmen und allerlei Kuriositäten. Gegenstände, die den Staub von Jahrzehnten atmen. Materielle Erinnerungen an ein Leben, die das Individuum geformt haben. Statt den berühmten “Rosebud”-Schrei aus dem Klassiker von Orson Welles hört man eine alte Frau namens Pinky mit ihrem letzten Atemzug rufen: “Potatoe!” (zu Deutsch: Kartoffel!). In der Sekunde ihres Todes wird ihre Hand von einem Pudel gehalten.
Zeitsprung: Viele Jahre zuvor, im Australien der 1970er-Jahre, wächst Grace zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Gilpert in ärmlichen Verhältnissen auf. Die Mutter starb bei der Geburt, großgezogen werden die Geschwister von ihrem französischen Vater Percy, einem ehemaligen Straßenartisten, der aber seit einem Autounfall im Rollstuhl sitzt.
Auch wenn die kleine Familie mit wenig auskommen muss, wirkt ihr Leben erfüllt. Zwar wird Grace von ihren Mitschülern gemobbt, doch ihr tapferer Bruder verteidigt sie stets. Während Gilpert von einer Karriere als Zauberkünstler träumt, interessiert sich Grace für Stop-Motion-Filme und, wie einst ihre tote Mutter, für Schnecken. Diese trägt sie nicht nur in Form einer Mütze auf dem Kopf, sondern hängt sich die Weichtiere in jeglicher Variante an die Wand; außerdem zieht sie eine lebende Schnecke namens Sylvia auf.
Schließlich tritt das ein, wovor die Zwillinge sich am meisten gefürchtet haben: Ihr Vater stirbt eines Tages an einer Schlafapnoe, und die Geschwister werden als Vollwaisen zu unterschiedlichen Adoptiveltern gebracht. Gilpert muss sich mit einer fanatisch-religiösen Großfamilie herumschlagen, Grace vereinsamt sukzessive bei einem kinderlosen Swinger-Pärchen in Canberra.
Der Animationskünstler Adam Elliot entwickelt sein narratives Markenzeichen in “Memoiren einer Schnecke”, für den er mehr als fünf Jahre zur Fertigstellung brauchte, konsequent weiter. Der australische Filmemacher vermag es, fiktive Biografien durch ein eigenwilliges Stop-Motion-Format kompakt zu erzählen und mit kreativen Ideen anzureichern. Schon in seinen Kurzfilmen “Uncle”, “Cousin” und “Brother” wählte er dieses erzählerische Element, indem er seine schrulligen Figuren durch bizarre Situationen manövrierte und auf ulkige Personen treffen ließ.
Familiäre Tragödien und daraus resultierende Chancen für Freundschaften ziehen sich durch Elliots Animationsfilme. Bei “Memoiren einer Schnecke” tritt die fast blinde Pinky in Graces Leben und schenkt ihr neuen Mut. Der Greisin widmet Adam Elliot eine eigene erzählerische Retrospektive, quasi einen Film im Film, in dem man sie als Stripperin auftreten oder ihren Gatten Bill durch einen grotesken Unfall sterben sieht.
Elliott macht vor keinem Thema Halt; die Figuren werden bei ihm nie geschont. Es geht um Depressionen, Ängste, Krankheiten, Traumata und Tod. Während Gilpert bei der bigotten Bauernfamilie körperlich wie seelisch drangsaliert wird, verliert sich Grace immer mehr in ihrer immens wachsenden Schneckensammlung. Der metaphorische Panzer, den sie sich im schulischen Alltag zugelegt hat, wird zum realen Rückzugsort. Das gemütlich eingerichtete Zuhause, das als Ort der Familie in Erinnerung geblieben ist, entwickelt sich simultan zum eigens erschaffenen Gefängnis.
Bei all diesen komplexen, tragischen und zugleich allgegenwärtigen Themen schafft der Film es, sich über keinen Aspekt lustig zu machen – trotz des ungefilterten Galgenhumors, der sich nie scheut, in moralische Abgründe zu blicken. Sei es die Hybris von religiösen Gemeinschaften, die sich kapitalistischer Mechanismen bedienen, oder die versteckten sexuellen Vorlieben von scheinheiligen Spießbürgern. Obwohl “Memoiren einer Schnecke” das alles durch niemals enden wollende Schicksalsschläge schleift und das Leben als Gag-Ansammlung fragmentiert, werden die Geschichten, Gedanken und Gefühle der aus Plastilin bestehenden Figuren ernst genommen.
Gerade die Übertragung existenzieller Tragödien auf die grotesken Knet-Körper offenbart die eigentliche Ironie des Films. Elliots Handschrift wirkt düster und trist – die Gesichter sind verzerrt und die Körper unförmig. Diese organische Anmutung resultiert auch daraus, dass der Autorenfilmer mit einem Tremor geboren wurde. Nicht durch den Stillstand erhält das Leben von Grace, Gilpert oder Pinky seinen bittersüßen Wert, sondern erst durch die Bewegung kann die wahre Farbsättigung im dunklen Bild entstehen. Elliot weiß genau, wie er die spezielle und aufwendige Animationstechnik einsetzen muss.
In nur 95 Minuten erzählt Elliots detailverliebtes Kunstwerk von einer schicksalsgeprägten Geschwisterbindung, ihren Träumen und Ängsten, sozialer Isolation und kreativer Freiheit, speziellen Freundschaften und falschen Partnerschaften. In seiner schwarzhumorigen Gangart zeigt der Film, dass das Leben mitunter nicht fair ist. Ein seltsamer Ort, voller schonungsloser Ironie und absurder Menschen. Menschen, die durch ihre Last und den Schmerz der Erinnerung vereint werden. Und die mit ihrem Tod etwas weitergeben.
“Memoiren einer Schnecke” legt clevere Fährten, die zwar erwartbar sind, aber in ihrer emotionalen Wucht dennoch überraschen. Wenn der Kitsch am Ende doch noch Einzug hält, fühlt er sich verdient an – als Trostpflaster nach einer langen, melancholischen Reise.