Als Hinweis auf Gefahr ist sie überlebenswichtig. Doch wenn Angst den Alltag bestimmt, wird sie zur Belastung. Betroffene suchen zunehmend auf Plattformen wie TikTok nach Hilfe – manchmal mit Erfolg.
Allein das Schlagwort #mentalhealth verzeichnet auf TikTok fast 100 Milliarden Views. Vor allem junge Menschen nutzen die Sozialen Medien auch, um sich zu informieren. Drohen also noch mehr sogenannte Modediagnosen? Begeben sich die jungen Leute in algorithmen-gesteuerte Abwärtsstrudel?
Nicht unbedingt, sagt Medienpsychologin Kerria Drüppel. An der Universität Hohenheim forscht sie unter anderem zum Einfluss bestimmter Inhalte auf TikTok; die unveröffentlichte Studie “#Anxiety-Content on TikTok and its influence on knowledge and behavior” liegt der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) vor. TikTok-Videos zu schauen, kann demnach durchaus einen positiven Einfluss auf Wissen von Nutzerinnen und Nutzern haben.
Krankenkassen verzeichnen einen starken Anstieg von Angststörungen – vor allem bei jüngeren Menschen. Bei 1,1 Prozent der Versicherten der Kaufmännischen Krankenkasse KKH wurde beispielsweise im vergangenen Jahr eine Phobie diagnostiziert. Bei den 15- bis 29-Jährigen sei dieser Anteil im Zehn-Jahres-Vergleich um 114 Prozent gestiegen, bei Frauen dieser Altersgruppe sogar um 133 Prozent.
Angststörungen zählen insgesamt zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Sie werden laut KKH in drei Hauptformen unterteilt: Bei der Agoraphobie empfänden Betroffene etwa in Situationen in Menschenansammlungen oder geschlossenen Räumen oft starke Ängste. Bei sozialer Phobie dominiere die Angst, sich in sozialen Situationen zu blamieren oder im Mittelpunkt zu stehen. Spezifische Phobien – besonders häufig – seien durch Ängste vor bestimmten Situationen oder Objekten gekennzeichnet, wie etwa vor Hunden, Schlangen, einem Zahnarztbesuch oder Krankheiten.
So war es für Drüppel und ihr Team naheliegend, den Hashtag #Anxiety näher zu betrachten – auf TikTok, jener Plattform, die seit 2017 am stärksten wächst. Konkret haben sie die Effekte untersucht, die Videos von Julie Smith haben, einer Klinischen Psychologin aus Großbritannien, deren Bücher internationale Bestseller sind. Ihre bis zu dreiminütigen Videos erreichen 3,5 Millionen Menschen. Solche qualifizierten Angebote könnten hilfreich sein: Das Publikum erinnere sich an die Inhalte, sagt Drüppel, und könne sich vorstellen, im Video angesprochene Tipps umzusetzen, wenn es einem das nächste Mal nicht gut gehe.
Grundsätzlich sei die Suche nach Hilfe auf digitalen Plattformen ein zweischneidiges Schwert: “Gerade Menschen, denen es nicht gut geht, können schnell in eine problematische Nutzung verfallen – wenn etwa der Algorithmus ihre Sorgen verstärkt.”
Wichtig sei daher, die eigene Mediennutzung zu reflektieren und zu moderieren. Das müssten Menschen viel früher lernen, betont die Forscherin. Dazu zähle, die Mechanismen der Plattformen zu durchschauen, aber auch, das eigene Verhalten zu hinterfragen, um beispielsweise zu erkennen, wenn eine Sorgenspirale drohe.
Social Media erst ab 16 zu erlauben, wie derzeit häufig gefordert wird, sieht Drüppel indes skeptisch: “Viele Plattformen sind erst ab 13 Jahren erlaubt, aber viele geben einfach ein falsches Geburtsjahr an. Das ist kaum zu kontrollieren.” Problematisch oder hilfreich sei zudem nicht die Nutzung selbst, sondern deren Art und Weise.
So bekämen bestimmte psychische Erkrankungen in den Sozialen Medien besonders viel Aufmerksamkeit. Neben häufig auftretenden wie Angststörungen betrifft dies auch ADHS, um das in den vergangenen Monaten ein regelrechter Hype entstanden ist. Letztlich bekomme jeder und jede unterschiedliche Inhalte zu sehen, da diese stark personalisiert ausgespielt würden, erklärt Drüppel. Aber: “Bestimmte Erkrankungen fallen hintenüber. Betroffene werden dadurch weniger ernstgenommen oder müssen weiterhin um Verständnis kämpfen.”
Auch seien sprachliche Verwischungen zu beobachten. Die Forscherin nennt ein Beispiel: “Beim Begriff ‘anxiety’ muss man unterscheiden. Im Englischen wird das Wort viel weitläufiger verwendet, etwa wenn man nervös ist.” Panikzustände oder eine Angststörung seien etwas anderes. Menschen, die Hilfe benötigen, sollten nicht das Gefühl bekommen: “Ah, das betrifft anscheinend fast alle, dann gehört es wohl dazu.”
Zudem seien bei weitem nicht alle Anbieter und Influencer qualifiziert – erst Recht nicht als Fachleute wie der untersuchte Account von Psychologin Smith. Es brauche weitere Forschung dazu, wie unterschiedliche Angebote wirken, etwa von Betroffenen oder Profis.
Auch die Gestaltung der Videos ist höchst vielfältig; nicht wenige arbeiten mit Humor, andere sprechen starke negative Emotionen an. Je nachdem, welche Inhalte genutzt werden, kann dies nach Einschätzung von Drüppel entlastend wirken und dazu beitragen, dass Betroffene sich weniger allein fühlten – aber auch negative Gedankenspiralen auslösen. Andere beklagten dagegen eine Verharmlosung von Problemen: “In vielen Fällen kann die Wirkung in beide Richtungen gehen.” Niemandem helfe jedoch ein Wettbewerb, wessen Gefühle besonders echt und valide seien. Nicht nur, aber auch in den Sozialen Medien brauche es daher mehr Offenheit für die Erfahrung anderer.