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Mehr als nur Märchen – Vor 150 Jahren starb Hans Christian Andersen

Bis heute weltberühmt sind die Märchen des Dänen Hans Christian Andersen. Aber er war mehr als nur der Schöpfer der kleinen Meerjungfrau und der Schneekönigin. Er schuf Singspiele, Romane und Hunderte Scherenschnitte.

Das hässliche Entlein, die kleine Meerjungfrau, die seit 1913 auch in Bronze an Kopenhagens Langelinje Kaj steht, oder die Schneekönigin. Die Märchen von Hans Christian Andersen wurden in weit mehr als 100 Sprachen übersetzt und haben ihn zum weltweit bekanntesten Dänen gemacht. Dabei wäre der Exzentriker aus Odense auf Fünen wohl lieber als erfolgreicher Bühnenschauspieler oder Opernkomponist in die Geschichte eingegangen. Vor 150 Jahren, am 4. August 1875, starb Andersen.

Seine Geburt rund 70 Jahre zuvor am 2. April 1805 war freilich das Gegenteil von Glanz, Ehre und Berühmtheit. Die Mutter Anne Marie Andersdatter soll später Alkoholikerin gewesen sein; der zehn Jahre jüngere Vater Hans Andersen schaffte es als Schuhmachergeselle kaum, die Familie durchzubringen. 1812 wurde er während der Napoleonischen Kriege Soldat, starb aber kurz nach seiner Rückkehr mit 34 Jahren.

Weitaus prunkvoller gestaltet Andersen seine Kindheit in den 1847 und 1855 erschienen Autobiografien aus, in denen es heißt: “Mein Schicksal hätte nicht glücklicher und besser geleitet werden können.” Biografin Gisela Perlet schreibt von Selbstinszenierung, für die er “geschönt, erfunden und verschwiegen” hat. Der dänische Titel “Eventyr og Historier” könnte nicht passender sein. Eventyr heißt Abenteuer; denn aufregend war das Leben des Schuhmachersohns bestimmt. Aber vielleicht war es auch – zumindest in Teilen – ein Märchen, so die zweite Wortbedeutung von eventyr.

Eins entdeckte Andersen schon früh: seine Freude an reisenden Theatergruppen, die regelmäßig nach Odense kamen. Ausgestattet mit viel Fantasie und Zähigkeit, brach er mit gerade mal 14 Jahren als blinder Passagier in die Hauptstadt Kopenhagen auf; mit dabei sein Talent als guter Netzwerker. Schon in seiner Heimatstadt hatte er Bekanntschaft mit Künstlern geschlossen, was er – anfangs eher erfolglos – in der Hauptstadt fortsetzte, getrieben vom Wunsch nach einer Theaterkarriere.

Im zweiten Jahr nach seiner Ankunft erhielt er zwar einige Monate nach der Aufnahme an der Ballettschule des Königlichen Theaters eine kleine Statistenrolle, musste aber feststellen, dass es zu mehr nicht reichte. Stattdessen begann er erste Erzählungen und Tragödien zu schreiben, inspiriert von seinen Vorbildern Walter Scott und William Shakespeare. Auch wenn diese zunächst abgelehnt wurden, erweiterte sich sein Bekanntenkreis – und somit der der finanziellen Unterstützer. So gelang es ihm auch, 1828 die Reifeprüfung abzulegen. Kurz darauf folgte die Veröffentlichung mehrerer Gedichte sowie das Opernlibretto Ravnen (Der Rabe).

Der Bremer Kunsthistoriker Detlef Stein nennt Andersen einen Europäer – und einen Universalkünstler mit großer Leidenschaft. 1831 bricht Andersen zu seiner ersten Auslandsreise auf, die in den Harz und die Sächsische Schweiz führt; viele weitere folgen. “Insgesamt hat er 29 Reisen außerhalb Dänemarks unternommen und mehr als neun Jahre außerhalb seines Heimatlandes verbracht”, so Stein, der kunsthistorische Vorträge über Andersen hält und 2018/19 gemeinsam mit Anne Buschhoff die Ausstellung “Hans Christian Andersen – Poet mit Feder und Schere” in der Bremer Kunsthalle kuratierte.

Begeisterung, Neugier und Inspiration müssen enorm gewesen sein: Im Harz sieht Andersen erstmals Berge; er reist bis nach Nordafrika, auf den Balkan, in die Türkei und Schweden. “Es gibt kaum jemanden, der so viel gesehen hat”, sagt Stein. Die Aufenthalte werden mit besonderen Besuchen verbunden. In Weimar lernt er den sächsischen Großherzog Carl Friedrich und dessen Sohn Carl Alexander kennen. In Zürich trifft er Richard Wagner. Andersen besucht Theater- und Opernaufführungen, Pariser Salons und zweimal auch die Weltausstellung.

“Andersen war ein der Zeit zugewandter Dichter. Im 19. Jahrhundert schrieb er über ‘Flugmaschinen'”, sagt Stein. Er sei an technischen Entwicklungen interessiert gewesen und ein “glühender Fan der Eisenbahn”.

Weltweit geblieben sind die Märchen, die schon früh im Ausland veröffentlicht wurden, was auch einen wirtschaftlichen Erfolg bedeutete. Allerdings: Es sind längst nicht nur Geschichten für Kinder mit glücklichem Ende. Das Mädchen mit den Schwefelhölzern stirbt einen Erfrierungstod. Die kleine Meerjungfrau kommt nicht zu ihrem Prinzen. Trotzdem wirken sie auch versöhnlich.

Vorgetragen hat Andersen sie – Biografin Perlet zufolge ließ er sich gerne und ständig einladen – oft in den Häusern wohlhabender Familien. Entstanden ist dabei eine weitere Kunstform: Scherenschnitte. Andersen erzählte wohl ein Märchen und fertigte parallel einen Scherenschnitt an.

Bis heute sind noch rund 400 erhalten. “Sicherlich hat Andersen erheblich mehr geschnitten”, sagt Stein. Viele gingen jedoch verloren oder zerrissen mit der Zeit. Der Kunsthistoriker selbst wurde erst bei seinem ersten Besuch im Hans-Christian-Andersen-Haus in Odense auf die kleinen Kunstwerke aufmerksam. Das zeige einmal mehr: Der Märchenerzähler war auch ein Bildkünstler.

Die Scherenschnitte erhielten wohl zumeist die Kinder der Gastgeber. Ausgerechnet! Noch vor seinem Tod begann eine Spendensammlung, um Andersen ein Denkmal zu errichten. Ein Entwurf zeigte ihn – vermutlich Märchen vorlesend – mit Kindern, die auf seinem Schoß sitzen. Empört schrieb er, so etwas niemals zu dulden. Und er setzte sich durch: Fünf Jahre nach seinem Tod wurde in der Parkanlage Kongens Have im Zentrum Kopenhagens seine Statue enthüllt: erzählend und ein Buch in der Hand haltend – aber allein.