Mehr als eine Mädchenkrankheit
In den vergangenen Jahren hatten sich bei Sven Steinbach (Name geändert) viele private Sorgen angehäuft. Die Trennung seiner Eltern, Probleme in der Schule, eine schwere Erkrankung seiner Großmutter, die eine enge Bezugsperson für ihn war. Zudem hatte der heute 20-Jährige keine Freunde, auf die er sich stützen konnte.
Um sich abzulenken, fing er eine Diät an, beschäftigte sich mit Ernährung und legte zusätzliche Sporteinheiten ein. Sein Verhalten wurde immer exzessiver, seine Diät immer strikter. Für den Schüler begann eine Abwärtsspirale, die in der Klinik endete. Seine Diagnose: Anorexia nervosa, Magersucht.
Majdy Abu Bakr, Chefarzt der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Spremberg in Brandenburg, sagt: „Männer, die an Magersucht leiden, schämen sich oft dafür, da die Krankheit nach wie vor als Mädchenkrankheit gilt.“ Dies führe dazu, dass betroffene Männer zu spät oder gar nicht Hilfe suchten. „Kommentare und Hänseleien können dazu führen, dass sich der Betroffene noch mehr isoliert und dadurch weiter in die Sucht abrutscht“, warnt der Psychiater.
Nach Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Köln erkranken von 1.000 Männern etwa zwei im Laufe ihres Lebens an einer Magersucht. Bei Frauen sind es siebenmal so viele. Die Erkrankung sei bei männlichen und weiblichen Betroffenen sehr ähnlich. Auch die Behandlung sei gleich.
„Der wichtigste Teil ist die psychotherapeutische Komponente. Viele Magersüchtige können über lange Zeit noch nicht akzeptieren, dass sie krank sind“, sagt Abu Bakr. Meist gehe es nicht ums Essen an sich, sondern um darunterliegende Probleme. „Die Erkrankung tritt meistens in einer Zeit des Umbruchs auf. Das kann eine Trennung sein, meistens jedoch, wie auch in diesem Fall, die Pubertät, die gravierende hormonelle und soziale Veränderungen mit sich bringt“, erklärt der Facharzt.
Das Ziel der ärztlichen Behandlung sei die Rückkehr zu einem gesunden Essverhalten. „Wir versuchen, gemeinsam mit den Patienten andere, gesündere Kompensierungsstrategien zu finden und auf bestehende Konflikte oder familiäre Kommunikationsprobleme einzugehen“, erklärt der Arzt. Ein stationärer Aufenthalt in einer spezialisierten Klinik für Essstörungen könne Betroffenen hierbei am besten helfen.
Als sich Sven Steinbach für eine stationäre Behandlung entschied, „wollte ich so weit weg von zu Hause und meinen Problemen wie möglich“, sagt der gebürtige Essener. Vom September 2022 bis April 2023 war er in der Schön Klinik Roseneck in Prien am Chiemsee in Bayern.
Hier behandelt Ulrich Voderholzer, Ärztlicher Direktor der Klinik, seit 14 Jahren Menschen mit Essstörungen. Fälle wie die von Sven Steinbach seien mustergültig, sagt Voderholzer. „Meistens ist eine starke Belastung oder eine Lebenserfahrung, die mit Verunsicherung verbunden ist, der Auslöser der Erkrankung. Das kann die Trennung der Eltern sein, der Verlust eines geliebten Menschen, Mobbing oder auch Ausnahmesituationen wie die Corona-Pandemie“, erklärt der Psychiater. Die Mechanismen hinter der Krankheit seien sehr komplex. Es gehe um weitaus mehr als nur den Wunsch, dünn zu sein.
Steinbach ist froh, sich für einen Klinikaufenthalt entschieden zu haben. „Auf meine Zeit in der Schön Klinik blicke ich mit einem guten Gefühl zurück“, sagt er.
Nach seiner Entlassung musste er zunächst in den Alltag zurückfinden. „Ich merkte, dass die Gedanken über Essen und Bewegung in manchen Momenten stärker waren als in der Klinik“, sagt er. „Bis jetzt habe ich es aber gut geschafft, diesen Gedanken nicht nachzugeben.“
Steinbach will die Zeit nach der Klinik-Behandlung für einen Neuanfang nutzen. Im nächsten Jahr möchte er eine Ausbildung beginnen und dann auf eigenen Beinen stehen.