Meeresglitzern und Alpenglühen

Die Bremer Kunsthalle inszeniert eine Hommage an die sinkende Sonne

Obwohl ein alltägliches Phänomen, sind die meisten Menschen von der untergehenden Sonne doch immer wieder fasziniert. Auch aus der Kunst ist das Motiv trotz Kitsch-Verdacht nicht wegzudenken. Die erste Ausstellung zum Thema zeigt die ganze Vielfalt.

Bremen (epd). Das Loisachtal selber liegt schon im Dunkeln, nur im Flusswasser spiegeln sich die Farben der sinkenden Sonne. Aber im Hintergrund ist sie noch zu sehen, die gewaltige Kulisse des Wettersteingebirges, rotglühend und in den Spitzen wolkenverhangen – ein magischer Moment. Was der Bremer Maler Johann Wilhelm Julius Köhnholz um 1871 in den bayerischen Alpen mit Ölfarben auf die Leinwand gebannt hat, steht für ein Phänomen, dem die Bremer Kunsthalle jetzt eine große Ausstellung widmet: den Sonnenuntergang. Die erste Themen-Schau dieser Art überhaupt, sagen die Bremer.

   Köhnholz und seine in den Augen vieler Kunstexperten eher kitschige Arbeit mögen die wenigsten Besucherinnen und Besucher der Kunsthalle kennen. Anders ist das wohl mit hochkarätigen Arbeiten beispielsweise von Caspar David Friedrich, Claude Monet, Dieter Roth, William Turner und Andy Warhol. Insgesamt etwa 120 Werke – Gemälde, Zeichnungen, Grafiken, Fotografien, Videos und Installationen – zeigen die Vielfalt des Themas, das seit Samstag (26. November) unter dem Titel «Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne» in der Kunsthalle betrachtet, ja auch genossen werden kann.

   Bis zum 2. April 2023 stellt sich das Haus dem Naturspektakel mit Arbeiten von der Romantik bis in die Gegenwart. Vor der sinkenden Sonne beispielsweise im glitzernden Meer hielten Menschen inne, seien berührt, «sinnieren, fotografieren – millionenfach», beschreibt es Direktor Christoph Grunenberg. Aus dem Blickwinkel der Kunst sei das allzu beliebte Motiv jedoch tief gesunken, es gelte als kitschig. Die
Kunsthalle starte deshalb ein Rettungsmanöver: «Bei dem Motiv lohnt es sich.»

   Also Kunst, nicht Kitsch? Das liegt im Auge des Betrachters, meint der Berliner Biopsychologe Peter Walschburger. Klar ist für ihn aber: «Als Kinder der Natur geraten wir in einem Moment wie dem Sonnenuntergang leicht in einen Zustand der Ergriffenheit, in dem uns die Welt wie verwandelt erscheint.» Viele fühlten sich verzaubert und aufgehoben, sicher, beheimatet, eins mit der Natur: «Da geht es um
Emotionen, die in unserer Evolution ihren Ursprung haben.»

   Wobei, darauf macht Kuratorin Annett Reckert verschmitzt aufmerksam, der Begriff Sonnenuntergang genau genommen einen Vorgang beschreibt, den es gar nicht gibt. Gott sei Dank, möchte man sagen. «Die Sonne geht nicht unter, es ist allein die Drehung der Erde, die den Tag zur Nacht werden lässt», verdeutlicht Reckert. Und macht darauf aufmerksam, dass es in Jahrmilliarden einen einzigen finalen Sonnenuntergang geben wird, wenn sich der Stern zum Roten Riesen aufbläht und am Ende als Weißer Zwerg stirbt. Die deutsche Malerin Marikke Heinz-Hoeck nimmt diesen Gedanken mit ihrem Bild «Stardust 6» von 2015 auf.

   Reckert ist es aber auch ein Anliegen, das Thema angesichts von Alltagskultur wie Sonnenuntergangs-Postkarten und kitschigen Fototapeten mit Palme und Feuerball gegen den schönen Strich zu bürsten – beispielsweise mit einer Arbeit von Klaus Staeck, dem Altmeister des Politplakats. Unter dem Titel «Keine Freiheit ohne Verschwendung» hat er 1979 im Jahr der zweiten Ölpreiskrise ein Motiv gestaltet, das unverändert aktuell ist: Vor einem spektakulär schillernden Himmel sind ein Sportwagen und ein Linienflugzeug zu sehen, zwischen den CO2-Schleudern steht ein gutgelauntes junges Paar.

   Die Enkelgeneration der Klima-Bewegung «Fridays for Future» hat dafür den Begriff Flugscham geprägt. Doch die klassischen Sehnsuchtsorte des Sonnenuntergangs – in der Kunst und in der Alltagsfotografie – sind weiterhin Berge und Meeresküsten wie in William Turners Gemälde «Strand von Calais bei Niedrigwasser». Und die werden noch immer oft per Auto oder Flieger angesteuert.