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Marthas Aufbruch

Alkohol, Medikamente, kaputte Beziehung: Jahrelang steckt Martha fest. Dann fährt sie an die See. Und entdeckt eine gewaltige Kraft

Unsere siebenteilige Serie mit persönlichen Schicksalen zu den sieben letzten Worten Jesu geht weiter mit einer Geschichte zu „Mich dürstet“ (Johannes 19,28): über den Durst nach Leben.

Irgendwann wachte Martha auf, und sie wusste: So kann es nicht weitergehen. Seit Jahren quälte sie sich durchs Leben. Alleinerziehende Mutter eines kleinen Schulkindes; der Vater lief davon, als die Tochter sieben Monate alt war. Ihre Arbeitsstelle als Buchhändlerin musste sie aufgeben. Die Nächte verschwimmen im Alkohol. Die Tage in Ängsten, Wut und Depressionen. „Immer wieder hämmerte mir der Satz ins Hirn: Für dich hat das Leben keinen Platz mehr bereit“, erinnert sich Martha heute.
Martha fühlt sich als Gefangene. Sie kommt nicht los von einem Mann, der ihr das letzte bisschen an Selbstachtung und Energie aussaugt. Steckt fest in der Verzweiflung, als Alleinerziehende nicht mehr ins Berufsleben zurückzufinden. Versinkt immer tiefer in der Trostlosigkeit ihrer Zwei-Zimmerwohnung im Ruhrgebiet. „Da war dieser Sommer“, erzählt Martha. „Ich weiß absolut nicht mehr, was ich da gemacht habe.“
Alkohol, Beziehungs-Chaos. Depressionen. Medikamente. Ist das die Hölle auf Erden? „Damals habe ich so etwas wie einen Todeshauch gespürt“, berichtet Martha. „Mir war klar: Wenn das noch ein bisschen so weiterläuft, gehst du dabei drauf.“
Dann klopft der Himmel an die Tür. „Eine Freundin war umgezogen, sie lebte jetzt am Meer“, erzählt Martha.Die zitiert die Freundin zu sich: „Du kommst mich jetzt besuchen“, verlangt die Freundin, „keine Widerrede“.
Also macht sich Martha auf, raus aus der Stadt. Auf in den Norden. Und da steht sie dann. Am Meer. „Der Himmel war verhangen. Alles grau“, erinnert sich Martha. Und trotzdem: „Das war eine Offenbarung.“ Es war, als ob jemand zu ihr spräche, irgendeine Stimme in ihr laut würde: Das kannst auch du haben. Ich? Für Martha ist das fast ein Schock. „Wenn du dein Leben lang negative Glaubenssätze eingehämmert bekommen hast“, erinnert sie sich an diesen Augenblick, „dann kannst du’s kaum glauben, dass dir etwas so Schönes erlaubt sein soll.“
Als sie nach nur einem Tag zurück ins Ruhrgebiet fährt, steht Marthas Entschluss fest: „Ich ziehe an die Küste.“ Sie löst zuhause alles auf, kündigt die Wohnung, packt nur das Nötigste und die Tochter ein.
Nach zwei Monaten ist es soweit: Martha wohnt im Norden. Ihre Freundin hat ihr eine kleine Wohnung vermittelt. Martha nimmt den erstbesten Job, den sie finden kann: Treppenhäuser putzen. „Das war eine scheiß Arbeit“, erschaudert sie noch immer beim Gedanken daran.
Aber Job und körperliche Anstrengung halten Martha auf Trab, geben ihrem Leben eine neue Ordnung. Und machen sie körperlich wieder fit. Martha macht eine Entdeckung: „Wenn du ein Ziel hast, etwas, wobei dein Herz aufgeht: Dann entwickelt man eine unfassbare Energie.“
Es war, erzählt Martha, als ob ihr das Universum selbst helfen würde. Weg vom Ruhrgebiet. Hin zur Küste. Das ist mehr als nur ein Umzug. Es ist ein Aufbruch. Und Martha erlebt bei diesem Aufbruch eine Unterstützung, die sie nicht für möglich gehalten hätte. „Plötzlich waren Menschen da. Alte Freunde. Neue Bekannte“, erzählt sie. „Menschen, die zu mir halten und mir helfen.“
Martha verändert sich. Sie findet neuen Lebensmut; hört auf, immer nur schwarze Kleidung zu tragen. Das Selbstvertrauen kehrt zurück. Martha sucht nach einer Möglichkeit, wieder in ihren erlernten Beruf als Buchhändlerin zu kommen. Sie sucht und sucht. Lässt sich nicht entmutigen. Irgendwann ist es soweit: Martha findet eine Stelle in einer Buchhandlung. Die ist zwar befristet, und sie muss weit fahren – 62 Kilometer, im Fiat Panda. Dreimal die Woche. Bei Wind und Wetter, Schnee und Eis. Und trotzdem spürt Martha: Es geht weiter bergauf.
Marthas Aufbruch ist keine Heile-Welt-Geschichte. „Die ersten anderthalb Jahre waren unheimlich schwer“, sagt sie. „Wenn dich der Alkohol einmal in den Klauen hatte, lässt er dich nie wieder los.“ Abends, wenn sie ausgepowert vom neuen Leben auf der Couch sitzt, hört sie das Flüstern. „Hallo, hier ist dein Rotwein. Weißt du noch, wie schön wir es miteinander hatten?“ Nur ein Schluck. Oder zwei. Etwas Wärme. Entspannung. Vergessen. Manchmal, sagt Martha, habe sie nur der Gedanke an ihre kleine Tochter daran gehindert, sich mörderisch zu besaufen.
Aber anders als in früheren Zeiten schafft Martha es diesmal, den Einflüsterungen, der steten Versuchung standzuhalten. „Es bleibt ein ständiger Kampf“, sagt Martha, und immer gehe es ums Ganze: „Das ist eine Rückfallkrankheit. Ein Schluck – und alles ist wieder kaputt.“
Nur: Es soll nicht mehr kaputt gehen. Zu viel steht für Martha diesmal auf dem Spiel. Die Tochter ist älter geworden, geht jetzt zur weiterführenden Schule. „Wir haben eine neue Wohnung. Da sind wir in zwölf Minuten zu Fuß am Meer.“ Vom Fenster aus kann man die Schiffe tuten hören, auf ihrem Weg hinaus in die weite Welt.
Überhaupt, das Meer: „Im Sommer ist es türkis. Oder ultramarin. Im Winter grau – oder am Abend wie flüssiges Silber. Ich flippe immer noch jedes Mal aus, wenn ich es sehe.“
Seit genau drei Jahren und zweieinhalb Monaten ist Martha jetzt trocken. Und obwohl sie weiß, dass sie ständig am Abgrund geht, hat sie die Hoffnung und den Glauben, dass sie und ihre Tochter das neue Leben, das neue Glück weiter leben dürfen.
Und sie hat jetzt eine Botschaft: „Viele Menschen sagen: Ich kann nicht“, sagt Martha. „Aber lass das nicht gelten! Wo geht dein Herz auf? Wenn du das herausgefunden hast, dann mache einen Plan. Schreib’s dir auf, so dass du es jeden Tag vor Augen hast. Und dann steck da alles rein, was du an Energie hast.“
Manchmal, sagt Martha, lässt einen das Leben warten. Aber wenn man sich etwas wirklich wünscht, sich ganz daraufhin ausrichtet und sich dann auf den Weg macht – dann kann es auch gelingen.

Martha ist jetzt 50. Ihr Name ist erfunden. Ihre Geschichte wahr.