„Man nannte uns Krüppel“

Früher hieß es „Irrenpflege“, heute „Heilerziehungspflege“: Schon diese beiden Begriffe verdeutlichen, wie sehr sich die Arbeit der Behindertenhilfe im Nachkriegsdeutschland verändert hat. Es begann mit Jahren, in denen Gewalt Alltag war.

Klaus Brünjes vor dem Haus, in dem er in den 60er Jahren untergebracht wurde
Klaus Brünjes vor dem Haus, in dem er in den 60er Jahren untergebracht wurdeDieter Sell / epd

Rotenburg/Wümme. Es war eine andere Zeit damals, ja. Aber die teils schmerzliche Erinnerung daran ist bei Klaus Brünjes so präsent, als sei es gestern gewesen. Die Erinnerung an die Angst vor Erziehern, an einen rauen Ton und an einen mächtigen Schlag in die Magengrube, der ihm nachts im Bett verpasst wurde. Im Juni 1963 kam er als körperbehinderter fünfjähriger Junge in die Rotenburger Anstalten der Inneren Mission bei Bremen – hinein in einen Alltag, der von Tristesse, Erlebnisarmut und Gewalt geprägt war.
Die Anstalten zählten schon damals zu den großen stationären Einrichtungen für geistig behinderte Menschen in Norddeutschland. Mit 1.130 Bewohnern und etwa 1.800 Beschäftigten sind sie es unter dem Titel "Rotenburger Werke der Inneren Mission" noch heute. Seit vielen Jahren stellt sich die Leitung der Einrichtung mit Forschungsprojekten der von Gewalt und teils auch von Medikamentenmissbrauch durchzogenen Geschichte. Jetzt ist ein Buch mit dem Titel "Hinter dem Grünen Tor" erschienen, das noch mehr Licht in die Lebensumstände zwischen 1945 und 1975 bringt.

Prügel für Jugendliche

Aufmüpfige Jugendliche wurden wie in anderen Einrichtungen der damaligen Zeit geprügelt und in Zellen gesperrt, manche mit Fußschnallen gefesselt oder über die Maßen mit Medikamenten ruhiggestellt. Brünjes kann sich erinnern, dass er nach dem Essen den Kopf auf den Tisch legen musste, damit die Schwester Mittagsruhe halten konnte. Rahmenbedingungen wie Personalnot, Stationen mit mehr als 50 Menschen und überforderte Beschäftigte hätten die Gewalt befördert, sagt der heute 60-Jährige. Besonders die Aufsicht männlicher Erzieher habe er zeitweise als Hölle erlebt.
Vor 55 Jahren ist er nach einer Kinderlähmung in die Anstalt gekommen. Ein Heim für geistig behinderte Kinder war für den Jungen definitiv nicht der richtige Platz. Aber es gab keine Alternative. Und: "Man nannte uns Krüppel, keiner wollte uns haben", erinnert sich Brünjes.
Nach dem Zweiten Weltkrieg habe es in der Einrichtung wie überall in Deutschland nur die Krankenpflege und die damals sogenannte "Irrenpflege" gegeben. Eine pädagogisch orientierte Heilerziehungspflege sei erst in den 1970er Jahren entstanden. Heute zählt Brünjes zur Mitarbeiterschaft der Rotenburger Werke, leitet eine Werkstatt-Gruppe und kümmert sich um Archivalien.

Nicht in die Enge treiben

Seit Anfang vergangenen Jahres können behinderte und psychisch kranke Heimkinder, die in stationären Einrichtungen brutalen Betreuungsmethoden und Misshandlungen ausgesetzt waren, über die Stiftung "Anerkennung und Hilfe" eine finanzielle Entschädigung erhalten. Bund, Land und Kirchen haben die Stiftung gegründet, die 2017 mehr als zehn Millionen Euro ausgezahlt hat. Eine Studie geht nach Angaben des Bundessozialministeriums davon aus, dass von den mehr als 240.000 Menschen, die in Einrichtungen der Behindertenhilfe und Psychiatrie untergebracht waren, rund 97.000 Leid und Unrecht erfahren haben könnten und heute noch leben.
Antragsberechtigt ist, wer zwischen 1949 bis 1975 in der Bundesrepublik beziehungsweise bis 1990 in der DDR in solchen Einrichtungen gelebt hat. Brünjes allerdings sagt, er wolle nach vorne schauen und den Beschäftigten der damaligen Zeit nichts Schlechtes vorwerfen. "Ich würde ihnen Unrecht tun. Sie versuchten, uns lieb zu sein." Man müsse das alles in der Zeit sehen. "Damals galt ja: bewahren, satt und sauber. Das ist längst vorbei."
Er wolle informieren. "Nicht vergessen, das ist wichtig. Aber anklagen will ich nicht", betont Brünjes, schlägt aber auch eine Brücke in die Gegenwart, die bundesweit in der Pflege oft von Personalnot und Zeitdruck geprägt ist. "Da müssen wir aufpassen, dass Leute nicht wieder in die Enge getrieben werden", warnt der Rotenburger. "Es sind die Schwächsten, die dann zuerst unter Ungerechtigkeiten und Gewalt leiden müssen." (epd)