Mächtig schiefgegangen: Vor 850 Jahren begann der Bau des Pisaners
Ja, der Turm von Pisa wurde vor 850 Jahren ziemlich schief gebaut, aber ein Blick nach Ostfriesland zeigt: der Pisaner ist dem Guinness-Buch der Rekorde zufolge nicht der schiefste Turm der Welt.
Es ist das immer gleiche Touristenspektakel. Zwischen Selfie-Stangen erobern sich US-Amerikaner und Japaner ihr Plätzchen für das rituelle Foto: Ich stütze den schiefen Turm von Pisa! – Doch daran liegt es sicher nicht, dass der weltberühmte Glockenturm in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gerader geworden ist. Im Zuge intensiver Baumaßnahmen in den 90er Jahren, die ein Umkippen verhindern sollten, wurde er um knapp 45 Zentimeter aufgerichtet; „um fast zwei Jahrhunderte verjüngt“, so ein Experte damals. Nun soll er Berechnungen zufolge für die nächsten 300 Jahre sicher sein.
Der Campanile des Pisaner Doms, als Höhepunkt der romanischen Domanlage geplant, steht frei auf einem lehmig-sandigen Untergrund – der unter dem Gewicht einsackt. Ausgrabungen ergaben, dass der Baugrund der Piazza dei Miracoli (Platz der Wunder) am Rand einer früheren Insel liegt, gleich neben einem versandeten antiken Hafenbecken. So begann sich der Torso schon ab 1185 zu neigen, zwölf Jahre nach der Grundsteinlegung 1173.
Mehr als 14.000 Tonnen Marmor wurden verbaut
Nach einem Jahrhundert ratlosen Baustopps wurden die nächsten vier Stockwerke schon leicht gegen den Neigungswinkel gebaut, um die Schieflage auszugleichen. Rettungsversuche mit geneigten Böden oder dünneren Mauern auf der Überhangseite scheiterten – und so beließ man es am Ende 1372 bei 55 Metern Höhe statt der geplanten 100 Meter. Mehr als 14.000 Tonnen weißen Carrara-Marmors wurden verbaut. Der Legende nach hat der Pisaner Wissenschaftler Galileo Galilei (1564-1641/42) hier durch Versuche seine Gesetze zum Freien Fall entwickelt.
Exakte Messungen seit Anfang des 20. Jahrhunderts ergaben, dass die Neigung des Turms an Tempo immer mehr zunahm, so dass 1990 – drei Jahre nach Zuerkennung des Welterbestatus der Unesco – die vorübergehende Schließung für Besucher angeordnet wurde. Metallreifen sollten gefährliche Risse im Baukörper stabilisieren. Experimente mit Gegengewichten aus Blei und provisorische Halteseile schlugen allerdings fehl.
Der Durchbruch dann Mitte der 90er Jahre: Schräge, vier bis fünf Meter tiefe Löcher wurden ins Erdreich gebohrt. Der Boden darüber sackte langsam nach, schließlich auch das Fundament des Turms; die Neigung verringerte sich von 5,5 auf 4 Grad. Seit Ende 2001 dürfen wieder kleine Touristengruppen hinauf. Ganz gerade soll der schiefe Turm ohnehin nicht werden – denn sonst verlören Pisa, die Toskana und Italien ja eines ihrer bekanntesten Wahrzeichen.
Pisaner ist nicht der schiefste Turm der Welt
Als höchster schiefer Turm gilt laut Statistiken mit 175 Metern der im Olympiastadion von Montreal, Kanada. Dort war allerdings Absicht am Start. Der unabsichtlich schiefste Turm der Welt ist dem Guinness-Buch der Rekorde zufolge der Kirchturm von Suurhusen in Ostfriesland – einer Region mit besonders hoher Dichte an schiefen Bauwerken.
Das Ganze ist natürlich ein Rechenexempel – aus den Faktoren Gesamthöhe, Überhang und Neigungswinkel. Am besten, man schaut sich die Bescherung mal selbst an. Beeindruckend schief geht es auch in Midlum (Ostfriesland) zu, in Bad Frankenhausen und Bendeleben (beide im Kyffhäuserkreis, Thüringen), in Neckartailfingen an der Schwäbischen Alb, in Bautzen oder Einbeck (Südniedersachsen).
Weitere schiefe Gebäude: Turm der Mauritiuskirche und Belfried von Brügge
In der Schweizer Märtyrerstadt Sankt Moritz kommt einem der Turm der Mauritiuskirche ziemlich schräg vor, in Belgien der Belfried von Brügge. Nicht weit voneinander in Siebenbürgen stehen die Margarethenkirche von Mediasch und die evangelische Pfarrkirche von Rusi (dt. Reußen) bei Slimnic (Stolzenburg) – beide auch nicht wirklich gerade gewachsen.
In Newjansk in der Oblast Swerdlowsk ist der Glockenturm von 1732 misslungen, in Kasan an der Wolga der Sujumbike-Turm aus dem 17./18. Jahrhundert im sogenannten Kasaner Kreml. Selbst einer der berühmtesten Türme Englands, der Elizabeth Tower am Westminster Palace, fälschlich „Big Ben“ genannt, hat einen Überhang von 46 Zentimetern.