Losung für ein Lebensgefühl

In vielen Kirchengemeinden wird für den Deutschen Evangelischen Kirchentag vom 7. bis 11. Juni in Nürnberg geworben. Über dessen Losung hat sich Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit Gedanken gemacht.

Guten Morgen! Deine Zeit beginnt jetzt – wie an jedem neuen Tag. Nutze sie wach, entschlossen und verantwortungsvoll!
Guten Morgen! Deine Zeit beginnt jetzt – wie an jedem neuen Tag. Nutze sie wach, entschlossen und verantwortungsvoll!_KUBE_

Ein seltsames Wesen mit Punkfrisur: In dieser Gestalt präsentiert sich Kairos, der Gott des richtigen Augenblicks – einer von vielen in der griechischen Mythologie.

Sein Kopf ist kahlrasiert bis auf den geflochtenen Haarschopf direkt über der Stirn. Man muss ihn also im rechten Moment erwischen, die Gelegenheit sprichwörtlich beim Schopfe packen, sonst ist es zu spät. Leider nicht einfach, denn Kairos besitzt Flügel. Er ist schnell und wendig – immer auf dem Sprung. Das Gegenteil von Institutionen, Kirche, Politik und Gesellschaft.

Zupacken, bevor es zu spät ist

Die Menschheit tickt langsam. Dringend notwendige Entscheidungsprozesse, Reformen und Aufbrüche dauern. Das gilt für Individuen wie fürs Kollektiv. In dieses Setting hinein platzt Kairos wie der kommende Kirchentag mit seinem Weckruf: Jetzt ist die Zeit. Also zupacken, anpacken – und zwar jetzt, sonst ist es zu spät!

Die aktuelle Kirchentagslosung trifft ein Lebensgefühl: Unser Leben steckt im Wandel, Krisen bestimmen die Gegenwart. Sorgen belasten, die Stimmung ist angespannt. Das Gefühl, wir haben nicht mehr viel Zeit, erzeugt zusätzlich Druck und signalisiert dringenden Handlungsbedarf, also steckt Speed in dieser Losung: Jetzt ist die Zeit. Nicht gestern, nicht morgen oder übermorgen.

Dazu passt die Rede von der letzten Generation und Zeitenwende, gerade letztere ein Lieblingswort im politischen und gesellschaftlichen Diskurs: Ob Vorsitzender des Deutschen Bundeswehrverbands oder Kanzler, Klimaaktivistinnen und -aktivisten oder Kirchenreformer und -reformerinnen: Sie alle proklamieren, dass jetzt die Zeit sei, und zwar dringend. Das klingt dann wie der letzte Passagieraufruf am Flughafen oder einmalige Chance für Liebe oder Karriere.

Ein klares Aufbruchssignal

Als klares Aufbruchssignal will sie auch der Kirchentag verstanden wissen: ein „Aufbruchssignal zur Abkehr von zukunftsgefährdenden Lebensweisen und Verhaltensmustern“. Noch knapper formuliert es der Evangelist Markus in seiner Zeit der Zeitenwende vor bereits 2000 Jahren: Tut Buße. Glaubt an das Evangelium. (Mk 1,15)

Jetzt ist die Zeit. Ich frage mich: Gilt das nicht immer? Ist das nicht die geheime Losung, die über jedem Leben steht, und zwar zu jeder Zeit? Jetzt ist die Zeit ist nicht nur Feststellung und Aufforderung, sondern immer auch Versprechen: Du hast Zeit. Es ist deine Zeit. Die wunderbare Möglichkeit und Verheißung, die nicht nur am Anfang oder Ende unserer Tage stehen sollte, sondern ganz groß über jedem einzelnen. Das ist die beruhigende und zugleich entschleunigende Botschaft dieser Kirchentagslosung: Jetzt ist die Zeit. Meine Zeit. Unsere Zeit. Gottes Zeit.

Veränderung braucht Zeit

Nehmen wir uns also zuallererst Zeit trotz Krisenstimmung. Zeit für diesen Kirchentag. Bei allen entscheidenden Momenten, von denen die Heilsgeschichte weiß, gilt ja: Es waren nie nur die Kairos-Momente, in denen sich alles veränderte. Es hat immer gedauert. Es brauchte Zeit und Geduld – auch Widerstände, Streit und Diskussionen. Nehmen wir den Exodus – den mühsamen Aufbruch Israels aus unerträglich gewordenen Lebensumständen. Der Durchzug durchs Schilfmeer war ein Punkt auf einer sehr langen Zeitskala. Die Zeit von den zehn Plagen durch geteilte Wasser und Wüste bis ins gelobte Land umfasste mehrere Generationen. Es gab Rückschläge, ehe am Ende Freiheit und Zukunft erreicht waren.

Umkehr und Vergebung, Rechtfertigung und Hoffnung auf ewiges Leben geschieht nicht in einem Moment oder Ereignis, sondern ist ein immer noch andauernder Prozess: Der vor langen Zeiten verheißene Messias, der für uns im Stall von Bethlehem zur Welt kam. Jesu Leben von der Krippe über seine Predigt- und Wanderjahre bis hin zu Kreuz, Passion und Auferstehung. Alles hat seine Zeit und braucht seine Zeit.

Ein bisschen Demut, Ruhe und Geduld schwingt also auch mit beim Kirchentagsmotto. Das scheint angebracht, wenn heute so inflationär und selbstverständlich das Wort Zeitenwende gebraucht und mit viel Aktionismus verbunden wird.

Barbara Manterfeld-Wormit

Neben Kairos existiert in der griechischen Götterwelt übrigens auch Chronos: Während Kairos für den flüchtigen, rechten Zeitpunkt steht, verkörpert Chronos den langen Atem: Weltenzeit und Lebenszeit. Es geht daher immer um beides und darum das drängende Hier und Jetzt mit Gottes Zeitempfinden zu verbinden, wo Tausende Jahre wie ein einziger Tag sind: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, mündend in die Ewigkeit.

Handeln ohne Selbstüberschätzung

Jetzt ist die Zeit. Jüdische und christliche Menschen glauben: Zeit und Stunde weiß allein er. Wir können, ja wir müssen handeln, aber ohne Selbstüberschätzung. Das gilt auch angesichts gegenwärtiger Krisen: Du hast’s in Händen, kannst alles wenden, wie nur heißen mag die Not. (EG 398,2) Du – also Gott, nicht ich. Wir können nicht alles wenden, selbst dann nicht, wenn wir immer richtig und rechtzeitig entscheiden und handeln, jeden Kairos gezielt ergreifen würden. Das wäre vermessen und führt in die Selbstüberforderung, Depression und Erschöpfung. Auch das sind Symptome unserer Zeit.

Sie zu benennen, sich einzugestehen und gemeinsam Wege daraus zu suchen, ist auch eine Chance dieses Kirchentages: dort in Nürnberg ein Menschenbild starkmachen und in die Öffentlichkeit tragen, das sich in der Gemeinschaft begreift – einzigartig zwar, doch nie allein oder absolut, sondern immer bezogen auf unsere Mütter und Väter vor und unsere Nächsten, Kinder und Kindeskinder neben und nach uns.

Wachsamkeit, Mut, Entschlossenheit

Ein Blick in die jüngere Vergangenheit lohnt: Oft haben Menschen das genauso empfunden: Jetzt ist die Zeit! Sie haben diese Aufbruchsstimmung an ganz unterschiedliche Ereignisse geknüpft. Welche Zeit das genau war, erwies sich meist erst hinterher. Das Jahr ’33 führte direkt in die Katastrophe. Die 68er brachten eine Zeitenwende, ebenso die Friedliche Revolution als Zeit der Wende.

Jetzt ist die Zeit – der Satz beinhaltet auch, dass es die Möglichkeit der Entscheidung gibt. Den einen entscheidenden Moment des Eingreifens, diesen einen Kairos. Man muss ihn erkennen. Man muss die Chance nutzen, die sich bietet, und die richtige Entscheidung treffen, wenn es darauf ankommt. Mit Wachsamkeit und immer auch Mut und Entschlossenheit.

Ich mag Spannung und Tempo. Beides steckt in dieser Losung. Von beidem braucht Kirche eine gute Portion, um durch die Zeiten zu kommen. Sie ist in die Jahre gekommen und behäbig geworden als Institution, nach der immer weniger die Hände ausstrecken und immer mehr die Gelegenheit beim Schopfe ergreifen und austreten. Was also braucht es jetzt? Ein Mix aus alldem:
Tempo und Nachdruck, Ruhe und Gelassenheit, Tradition und Fantasie, Spontaneität und Verantwortungsbewusstsein, Zuversicht und Nüchternheit, klare Ansage und seelsorgerlicher Zuspruch. Ein bisschen Kairos, ein bisschen Chronos. Wenn all das in Nürnberg passiert, wird es eine wunderbare Zeit!

• Über Gottesdienste zum Kirchentag informiert die Internetseite www.kirchentag.de/