Liebeserklärung an Dulcea
Zwei mit einem Kreuz markierte Männer schleichen herbei und töten die Jüdin Dulcea (Dolce) und ihre Töchter Bellette und Hannah im Jahr 1196 in ihrem Haus. Ihr Mann, der einflussreiche Rabbiner von Worms, Eleazar ben Judah, ist am Boden zerstört: Er verarbeitet seine Trauer über den Verlust seiner nicht einmal 30 Jahre alten Ehefrau in einem bewegenden Klagegedicht: „Die Krone ihres Mannes und eine Tochter der Großmütigen war sie. Eine gottesfürchtige Frau – bekannt für ihre guten Taten“, heißt es darin.
„Dulcea war eine starke, gebildete Frau“, würdigt die Heidelberger Video- und Performancekünstlerin Janet Grau. Die 60-jährige Stipendiatin des Projektes „SchUM Artist in Residence“ der Stadt Worms hat nun auf der Grundlage des Gedichts ein rund zehnminütiges Video erstellt: „Such a One“ (So eine) lautet der mehrdeutige Titel.
Die von umherziehenden Kreuzfahrern oder hasserfüllten Nachahmern in Worms ermordete Dulcea habe sich in den engen Grenzen der jüdisch-mittelalterlichen Kultur behauptet, sagt die US-Amerikanerin Grau. Genau hundert Jahre zuvor – 1096 – hatte es ein von Teilnehmern des Ersten Kreuzzuges verursachtes großes Pogrom an den jüdischen Bevölkerungen der „SchUM“-Städte am Rhein, in Worms, Speyer und Mainz, gegeben.
Dulcea kümmerte sich als Geldverleiherin und Geschäftsfrau um den Familienunterhalt und hielt ihrem Mann damit den Rücken für seine religiösen Studien frei. Auch übernahm sie Aufgaben in der Gemeinde, etwa das Arrangieren von Ehen und die Vorbereitung der Bräute.
Die Eigenständigkeit „solch einer“ Frau war für manche Zeitgenossen eine Provokation – und für sie selbst ein Wagnis. Grau präsentiert ihr Videoprojekt Ende September in Worms, Mainz und Speyer. Das in hebräischer Sprache in zweizeiligen Couplets verfasste titellose Gedicht von Dulceas Mann sei einzigartig für das mitteleuropäische aschkenasische Judentum, sagt die Künstlerin. „Es ist ein Liebesgedicht.“
Der Rabbiner Eleazar spricht seine ermordete Ehefrau direkt an, zitiert das biblische Buch der Sprüche (31,10-31), in denen eine vorbildliche, tüchtige Ehefrau beschrieben wird. Er würdigt Dulcea als eine treue Partnerin auf Augenhöhe – auch wenn seine männlichen Vorstellungen über bewundernswertes weibliches Verhalten heute verwundern: „Fröhlich tat sie den Willen ihres Mannes und reizte ihn nie zum Zorn.“ Mit seinen persönlichen Worten ging der Rabbi wohl an die Grenzen dessen, was die jüdische Gemeinschaft mit ihren strikten Gesetzen – und Trennlinien zwischen den Geschlechtern – damals als akzeptabel erachtete.
Vor einiger Zeit entdeckte Grau, die aus einer evangelisch-methodistischen Familie aus Ohio stammt, bei Recherchen den Gedichttext, zunächst in englischer und dann in deutscher Übersetzung. Sie war von den herzergreifenden Worten aus weit zurückliegender Zeit angetan und bat David Lüllemann von der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg, diesen aus dem Hebräischen neu ins Deutsche zu übertragen.
In dem Video wandert Janet Grau selbst auf den Spuren von Dulcea und schlüpft in ihre Rolle. In einem grünen Frauenkleid und Kopftuch schlendert sie, einen Brotkorb in der Hand, an den Resten der Wormser mittelalterlichen Stadtmauer entlang und durch das ehemalige jüdische Viertel. Aus dem Off rezitiert Grau das Gedicht in englischer Sprache, Cello-Klänge erinnern an eine traurige, männliche Stimme. Im Abspann des Videos ist es dann in seiner deutschen Übersetzung zu lesen.
Nur wenig wisse man über das Leben jüdischer Frauen im Mittelalter, sagt Janet Grau. „Jüdische Frauen sind unsichtbar.“ Deshalb sei das Gedicht des Wormser Rabbis Eleazar ein besonderes historisches Dokument. Mit ihrer Video-Bearbeitung wolle sie „auch zur Diskussion über die Situation von Frauen im Mittelalter und heute einladen“.