„Les Indes Galantes“ dokumentiert ein musikalisches Experiment

Clement Cogitore inszenierte 2019 an der Opera Bastille die Barockoper „Les Indes Galantes“ unter Beteiligung junger Streetdancer. Philippe Beziat hat Entstehung und Reaktionen der Protagonisten mit der Kamera festgehalten.

In Zusammenarbeit mit filmdienst.de und der Katholischen Filmkommission gibt die KNA Tipps zu besonderen TV-Filmen:

Für eine Produktion von Jean-Philippe Rameaus Barockoper „Les Indes galantes“ an der Pariser Opera Bastille arbeiten der Künstler Clément Cogitore und der Choreograph Bintou Dembele mit 30 jungen Streetdancern zusammen. Dabei steht deren Tanzkunst ebenso im Fokus wie die Auseinandersetzung junger Menschen mit den Inhalten der Oper, die das Klischee des „gutmütigen Wilden“ aufgreift.

Die Dokumentation von Philippe Beziat porträtiert als Werkstattfilm die Proben und fängt das Projekt in seinen fruchtbaren Aspekten wie auch in den Grenzen der Fusion ein. Rameaus Musik dominiert zwar letztlich die Klänge des Streetdance, doch dessen tänzerische Impulse können sich durch eine agile Kamera hervorragend vermitteln. (O.m.d.U.)

Gleich die ersten Bilder markieren die Herausforderung der kulturellen Tradition, von der der Dokumentarfilm „Les Indes Galantes: Barock und Streetdance an der Pariser Oper“ handelt. Und zwar, weil sie nicht, wie fast alle Bilder des Kinos und des Fernsehens, im Quer-, sondern im Hochformat aufgenommen sind. Videotagebuchartige Eindrücke der beteiligten Künstler stehen am Anfang des Films, aufgenommen für die Verbreitung in Sozialen Netzwerken wie TikTok und Instagram. Dementsprechend dynamisch sind sie auch gestaltet, als frontale, direkte Ansprache des Zielpublikums.

Das ist nicht die Form, in der die Oper für gewöhnlich mit ihrer Zuschauerschaft kommuniziert. Und auch die Tänze, welche die sich zu Beginn selbst filmenden jungen Männer und Frauen, die meisten von ihnen schwarz, zur Aufführung bringen, gehören nicht zum traditionellen Repertoire der europäischen Hochkultur.

Streetdance in diversen Spielarten, Krumping, Breakdance und so weiter, hat sich die Opera National de Paris ins Haus geholt – nicht allerdings in die altehrwürdige Opera Garnier, sondern in die Opera Bastille, die 1989 eröffnete zweite Spielstätte, ein eindrucksvoller, seinerzeit von dem Stararchitekten Carlos Ott entworfener Bau im modernistischen Stil. Auch mehr als 30 Jahre nach seiner Entstehung hat das Gebäude noch etwas Raumschiffartiges und evoziert in seiner aus simplen, geometrischen Formen gefertigten Fassade die grobpixelige Ästhetik der frühen Digitalisierung.

Gegeben wird in der Bastille „Les Indes Galantes“, eine 1735 uraufgeführte Oper des Barockkomponisten Jean-Philippe Rameau. Deren Handlung entwirft vier Liebesgeschichten an – aus Sicht des französischen 18. Jahrhunderts – „exotischen“ Orten: im Osmanischen Reich, in Peru, in Persien und in Nordamerika.

Durchaus detailliert arbeitet der Film den zwischen Faszination, Angst und Idealisierung oszillierenden Blick aufs Fremde heraus, der in dieser Erzählung aus einer vergleichsweise frühen Phase des kolonialistischen Zeitalters steckt.

Es liegt nahe, einen solchen Blick mit einem Gegenblick, oder jedenfalls mit einer Gegenpräsenz zu beantworten: mit der Präsenz von Körpern und Tänzen von Menschen, die biografische Wurzeln in einst kolonisierten Erdteilen haben, nun aber in Frankreich leben. Als Teil einer Gesellschaft, die irgendwie lernen muss, mit sich selbst auszukommen. Man kann das auf die Oper als Institution zurückspiegeln. Auch sie muss ihre Türen für ein junges Publikum öffnen, das längst nicht mehr bereit ist, den klassischen Kanon als gegeben hinzunehmen. Und damit auch für neue Formen des künstlerischen Ausdrucks, die in die Bühneninszenierung des Künstlers Clement Cogitore nicht als harter Bruch mit dem Bestehenden einbrechen, sondern sich mit den tradierten hochkulturellen Formen zu einer neuen, synkretistischen Mischform fügen. Das Gelingen ist dabei keineswegs garantiert.

Es gehört zu den Stärken des Films, dass er die Proben der Streetdance-Barockoper als ein Experiment mit offenem Ausgang beschreibt. Das Ergebnis dieser Anstrengungen bleibt auch nach der Premiere weiter offen, was sich in der Diskrepanz zwischen enthusiastischen Publikumsreaktionen und verhaltenen Besprechungen der Kritik niederschlägt.

Der von Philippe Beziat inszenierte Film steht eindeutig auf der Seite des Experiments, und dennoch lässt er auch Raum für die Skepsis. Zum Beispiel, wenn einer der Straßentänzer sich fragt, ob seine Kultur tatsächlich dauerhaft die Tür zur Welt der Oper aufgestoßen hat, oder ob es bei dem einen Ausnahmeprojekt bleiben wird. Aber auch ein Satz aus Rameaus Libretto, demzufolge „die Sieger uns den Frieden bringen“, sorgt für Irritation. Historisch mag man seine Perspektive nachvollziehen können, aber wie geht man damit in einer Aufführung in der Gegenwart um?

Beziats Film ist in erster Linie ein Werkstattfilm. Er bleibt eng am Prozess der Proben und gibt Cogitores Ausführungen viel Raum. Das ist Stärke und Limitation zugleich. Eine Stärke, weil die Konzentration auf das künstlerische Experiment gewahrt bleibt. Großartig ist der Film insbesondere da, wo die agile, sich mit Vorliebe kreisförmig um die Tänzer und Sänger bewegende Kamera die gelingende Synthese quasi in Echtzeit festhält und einer neuen Bewegungskunst beim Entstehen zusieht.

Im Vergleich zum klassischen Ballett fällt auf, wie wichtig in den diversen Streetdance-Spielarten die Horizontale ist, wie oft und wie geschickt die Künstler sich zu Boden fallen lassen, nur um gleich darauf wieder in die Höhe zu schnellen oder sich langsam, aneinander windend, hochzuschrauben.

Die Limitation zeigt sich beispielsweise darin, dass die hauptsächlich elektronische Musik des Streetdance nach einem dem Casting-Prozess gewidmeten Prolog vollständig aus dem Film verschwindet und durch Rameaus Barockklänge ersetzt wird. Nur einmal versucht sich der Film an einer musikalischen Fusion, wenn eine traditionelle indigene Melodie in den Rameau-Klangraum hineingeblendet wird. Aber selbst das ist eine Musik, die aus der Vergangenheit spricht. Die urbane Gegenwart wird zwar vielfach beschworen, doch im Bild oder gar Klang wird sie kaum manifest.

Nur selten verlässt der Film die Proberäume; Eindrücke aus dem Alltagsleben der Tänzer bleiben vage und werden, wo sie doch auftauchen, von ihrer Social-Media-Selbstrepräsentation überformt. So bleibt es bei dem in einem solchen Projekt vermutlich unvermeidlichen Eindruck eines Übergewichts der Tradition, die den Rahmen vorgibt für die zu erarbeitende gesellschaftliche und künstlerische Synthese.