Lernen aus dem Schicksal von Tugce Albayrak

Ein weißes Schild, darauf in Schwarz das Porträt einer jungen Frau und ihr Name: Tugce Albayrak. Das Schild hängt vor den Räumen des gleichnamigen Vereins in einer belebten Straße der Innenstadt von Frankfurt am Main. Der Verein erinnert an ihr Schicksal und verbindet damit eine Mission: „Wir wollen Zivilcourage lehren und der Gewalt vorbeugen“, sagt Dogus Albayrak.

Der 35-Jährige hatte ebenso wie seine Schwester in Gießen studiert, als die damals 22-Jährige vor zehn Jahren in eine Auseinandersetzung geriet, die sie das Leben kostete. „Wir waren uns nahe“, sagt Albayrak dem Evangelischen Pressedienst (epd). Die Wunde schmerze die Familie noch immer. Als Studierende – er Wirtschaftswissenschaften, sie Deutsch und Ethik für das Lehramt – hätten die Geschwister begonnen, sich noch einmal anders kennenzulernen. Doch sie kamen nicht weit.

In der Nacht zum 15. November 2014 hatte Tugce in einem Offenbacher Fast-Food-Restaurant zwei Mädchen geholfen, die von einer Gruppe junger Männer in den Toilettenräumen belästigt worden waren. Später trafen Tugce und ihre Freundinnen die jungen Männer auf dem Parkplatz wieder. Einer von ihnen, der damals 18-jährige Sanel M., versetzte Tugce einen heftigen Schlag. Sie stürzte mit dem Kopf auf den Asphalt und fiel ins Koma.

Am 28. November, Tugces 23. Geburtstag, ließ ihre Familie die lebenserhaltenden Maschinen abschalten. Der Täter wurde zu drei Jahren Haft verurteilt und anschließend nach Serbien abgeschoben. Der Tod der beherzten jungen Frau hatte international Aufsehen erregt, sie wurde zu einem Symbol für Zivilcourage. Zur Beerdigung in ihrer Geburtsstadt Bad Soden-Salmünster kamen rund 1.300 Menschen.

Ein Jahr nach dem gewaltsamen Tod von Tugce gründeten ihre Familie und Freunde den Verein, um mit Gewaltprävention zu verhindern, dass so etwas wieder passiert. Der Verein organisierte unter anderem 2019 zusammen mit der Stadt Bad Soden-Salmünster einen Lauf unter dem Motto „Spessarthelden – Laufen gegen Gewalt“. An der Veranstaltung unter der Schirmherrschaft des früheren Bundespräsidenten Christian Wulff nehmen seitdem jährlich Hunderte Läuferinnen und Läufer teil. Inzwischen sei aus dem Benefizlauf ein Festival mit Foodtrucks, Musik und Kinderprogramm geworden, erzählt Albayrak.

An Schulen ist der Verein mit dem Workshop „Alltagshelden“ unterwegs. Allein innerhalb des vergangenen Jahres haben daran in mehr als 30 Schulen bundesweit 1.900 Schülerinnen und Schüler in dritten bis zehnten Klassen teilgenommen. „Die Träger der Gesellschaft von morgen“ sollten sich vom Beispiel seiner Schwester nicht abschrecken lassen und lernen, wie sie trotz Empathie und Zivilcourage auf sich selbst achten können, erklärt Albayrak.

Neun Pädagogen bieten auf Honorarbasis die Theaterworkshops an. Die Kinder schlüpfen in die Rollen von Opfern und Tätern. Sie lernen, in Konflikten auf Worte und Gestik zu achten und zu erkennen, wann eine Situation gefährlich wird und wie sie sich verhalten können. Es gebe ihm Kraft, wenn er den Kindern ansehe, dass sie verstehen, worum es geht, sagt Dogus Albayrak.

Die Kraft braucht er, denn er ist bei jedem der Workshops dabei und erzählt die traurige Geschichte seiner Schwester. Sie gebe ein gutes Fundament für das anschließende Theaterspiel. In jeder Gruppe gebe es auch die Kinder, die zu ihm sagen: „Hey, was redest du da, man muss sich doch rächen. Ich hätte den verfolgt und geschlagen.“

„Ich hatte diesen Hass und die Rachegedanken auch, ich bin ein Mensch mit Emotionen“, sagt der dunkelhaarige Mann mit Bart und ernstem Blick. Das gebe er den Kindern gegenüber auch zu. „Ich frage sie dann allerdings auch, was sich für sie besser anfühlt: Hass oder Glück und Liebe?“ Die Antwort sei fast immer „Glück und Liebe“.

Die Schulen können Fördergeld beantragen, um die Kurse zu finanzieren. Dabei müssen die Ehrenamtlichen des Vereins oft helfen. Auf Dauer sei die Arbeit mit den ehrenamtlichen Strukturen allein nicht zu schaffen, sagt Dogus Albayrak, der freiberuflich eine Werbeagentur betreibt. Aktuell suche man nach Wegen, um die Gewaltprävention nachhaltig finanzieren und anbieten zu können. „Hätte Tugce einen unserer Kurse besucht, würde sie heute vielleicht noch leben“, sagt ihr älterer Bruder nachdenklich.