“Mona Lisa” der Buchmalerei wird diese Handschrift aus dem 15. Jahrhundert genannt. Weil das legendäre Stundenbuch restauriert werden muss, gibt es die seltene Chance, das Werk nun aus der Nähe zu betrachten.
Solche “Juwelen der Kunst” sieht man nur einmal im Leben. Die Rede ist von der wohl berühmtesten Buchmalerei der Welt, dem legendären Stundenbuch “Les Très Riches Heures du Duc de Berry” (Die sehr reichen Stunden des Herzogs von Berry). Wegen seiner extremen Fragilität wird das Werk so gut wie nie öffentlich gezeugt. Bis 5. Oktober kann es aber nun in einer spektakulären Schau im Schloss Chantilly in Frankreich bewundert werden – zum ersten und vielleicht letzten Mal in dieser Ausführlichkeit. Denn das Stundenbuch darf laut Testament seinen Aufbewahrungsort nicht mehr verlassen.
Weltberühmt ist diese Handschrift des 15. Jahrhunderts vor allem wegen seiner Kalenderblätter: ganzseitige Darstellungen der zwölf Monate, gepaart mit dazu passenden Tätigkeiten. Noch nie zuvor waren diese auf Vorder- und Rückseite bemalten Blätter zusammen ausgestellt; allein schon deshalb lohnt sich jeder Besuch dieser viel bewunderten illuminierten Handschrift. Unzählige Abbildungen und Reproduktionen haben ihr den Beinamen “Mona Lisa der Buchmalerei” eingebracht.
Wer vor einem dieser in strahlenden Farben und glänzendem Gold wie kleine Tafelbilder gemalten Blätter steht, kommt aus dem Staunen kaum heraus. Denn in ihnen entfaltet sich ein atemberaubendes Panorama einer Zeit, das die damals größten Meister geschaffen haben. Das Monatsbild August etwa zeigt einen prächtigen Reiterzug von Adligen in einer friedlich sommerlichen Landschaft, während sich im Fluss dahinter junge Leute beim Schwimmen vergnügen.
Im Halbrund über den jeweils rechteckigen Bildern sind die den Monat beherrschende Planetengottheit und das betreffende Sternzeichen zu sehen. Der Hintergrund mit astronomisch-astrologischen Hinweisen ist wie das intensive Blau in den Bildern mit kostbarstem Lapislazuli gemalt. Auch die im März oder Juli präsentierten bäuerlichen Tätigkeiten sind in extrem verfeinertem Stil festgehalten. Beinahe tanzend gehen die Menschen ihrem harten Alltag nach und bewegen sich feingliedrig in perspektivisch schlüssigen Räumen. Jedes noch so kleine Detail ist genau beobachtet.
Weiter enthält das Werk acht ungewöhnliche Einzelbilder, wie “Der anatomische Mensch”, “Die Hölle” oder “Plan von Rom”. Aufgenommen ist auch der Garten Eden mit der Verführung Evas durch die Schlange und die Vertreibung aus dem Paradies, das als Gebirgsmassiv über den Wolken erscheint. In 121 Miniaturen entfaltet sich aber vor allem eine faszinierende Welt des Mittelalters im Format 29 mal 21 Zentimeter.
Der zwischen 1410 und 1485 entstandene Kodex gilt heute zu Recht als eine der schönsten jemals geschaffenen Handschriften. Insgesamt umfasst er 208 Blätter auf hochwertigem Pergament. Trotz der Vielzahl an Künstlern, darunter die berühmten Gebrüder Limburg und Jean Colombe, wirkt das Buch erstaunlich einheitlich. Neu war die Verbindung höfischer Szenen mit einem religiös geprägten Stundenbuch für den privaten Gebrauch. Ebenso ungewöhnlich war, persönliche Wünsche des Auftraggebers, des Herzogs von Berry, zu erfüllen. Seine Schlösser oder Neujahrsfeiern sind exakt dargestellt.
Das Bild gewinnt gegenüber dem Text eine Eigenständigkeit, die es vorher nicht hatte. Die damals beliebten Stundenbücher enthielten Texte aus dem Gebetskanon der Kirche, zur Marien- und Heiligenverehrung, den Passionszyklus sowie Psalmen. Sie waren dem Gebrauch von Laien angepasst; erfüllten nicht nur religiöse Bedürfnisse von Andacht und Meditation, sondern auch eine ausgeprägte individuelle Schaulust.
Einer der größten Sammler von Kunst an der Wende zum 15. Jahrhundert war Herzog Jean von Berry, zugleich einer der fanatischsten Büchernarren der Geschichte. Er gab mindestens 15 Stundenbücher in Auftrag, von denen sechs erhalten blieben. Sie alle sind in der Schau erstmals seit dem Tod des Herzogs 1416 und der Zerstreuung seiner Sammlungen zu sehen.
Der Grund dafür, dass die Handschrift “Très Riches Heures” aus dem 15. Jahrhundert nun ausgestellt ist: Sie muss dringend restauriert werden – und wurde dafür in Einzelblätter zerlegt. Auch weitere Berry gehörende Stücke wie Gemälde, Skulpturen, Manuskripte, Goldschmiedearbeiten und Stickereien werden in Chantilly gezeigt.