Artikel teilen:

Leben im “Krisenmodus” – Nicht alle Schutzstrategien sind sinnvoll

Die Welt ist aus den Fugen, aber im Supermarkt ist alles wie immer – solche psychischen Rückzugsorte suchen derzeit viele Menschen. Ein Psychologe sieht durch die ständigen Krisen dauerhafte Veränderungen im Miteinander.

Krisen als Zombies? “Man kriegt sie nicht tot, sie kehren immer wieder: Jeden Herbst flammt Corona auf, der Klimawandel geht nicht weg, die Kriege im Gazastreifen und in der Ukraine auch nicht” – so erleben viele Menschen nach Worten des Psychologen Stephan Grünewald die heutige Welt. In ihrer “privaten Eigenwelt” fühlten sie sich dagegen geborgen, sagte Grünewald im Interview der Zeitschrift “Psychologie Heute” (August-Ausgabe). Daher zögen sich viele in ein privates Schneckenhaus zurück.

Als Russland im Frühjahr 2022 die Ukraine angegriffen habe, hätten die Menschen das Geschehen wie gebannt verfolgt – und gehofft, dass sich der Krieg nicht ausbreiten möge. “Doch schon sechs Wochen später schilderten uns Befragte, der ständige Blick in den Kriegsabgrund verstöre sie. Sie gingen also wieder zu ihren Routinen über und guckten wieder weniger Nachrichten, um die Krisen auszublenden”, erklärte der Marktforscher. Ebenso werde der Klimawandel vielfach ausgeblendet: “Wenn nicht gerade etwas eskaliert und es zum Beispiel eine Flutkatastrophe gibt, wähnen sich die Menschen in einer trügerischen Sicherheit und Berechenbarkeit”.

Grünewald bezeichnete diese Entwicklung als “Wirklichkeitsverengung”, die problematische Folgen haben könne: “Der Freundeskreis wird zum Bollwerk. Diese sozialen Bollwerke entwickeln eine Wagenburgmentalität. Wer im Bekanntenkreis andere Meinungen vertritt, wird als ‘anstrengend’ empfunden und wird aussortiert.”

Vor der Corona-Zeit hätten die Menschen den Eindruck gehabt, per Smartphone spielerisch die Welt zu beherrschen – mit einem Fingerwisch habe man “Transaktionen tätigen, tindern, Reisen buchen, das Weltwissen ergooglen” können, so der Gründer des Rheingold-Instituts ins Köln. Die Pandemie habe gezeigt, dass Menschen sterblich und von “unsichtbaren, viralen Feinden” umgeben seien. Daraufhin hätten sie zunächst gehamstert, um sich wieder handlungsfähig zu fühlen, dann geputzt, um sichtbare Feinde zu besiegen. “Im dritten Schritt wurden die Baumärkte gestürmt, um aufzurüsten.”

Solche “Orte der Selbstvergewisserung” seien weiterhin wichtig: Als Beispiel nannte Grünewald etwa Supermärkte. Dort habe man weiterhin eine Wahl, und die Welt erscheine “in Ordnung”. Ebenso werde Hautcreme heute weniger mit Pflege verbunden und mehr mit der Hoffnung auf etwa ein “dickes Fell”: Die Bedeutung verschiebe sich von “schöner leben” zu “überleben”.

Zugleich habe etwa die Hälfte der Bevölkerung “immer ein Auge am Ticker, um von etwaigen Hiobsbotschaften nicht kalt erwischt zu werden”. Für Verbundenheit brauche es jedoch gemeinsame Perspektiven, betonte der Experte: So habe es im Winter 2022 auf der Hand gelegen, die Heizung herunterzustellen, weil niemand Blackouts erleben wollte. Derzeit gebe es dagegen “sehr viel Energie in der Bevölkerung, die sich destruktiv in Wut, Lethargie oder Trauer kanalisiert. Das zu ändern, ist auch eine Frage der politischen Kommunikation.”